Alle Naechte wieder
vollen Zügen. Angetan mit Lanies Ausrüstung und eng an Scotts Rücken geschmiegt, weil sein Schlitten eigentlich nicht für zwei Personen gedacht war, konnte ihr die Kälte nichts anhaben, solange sie ihn nicht losließ und hinunterfiel.
Gelegentlich, wenn sie ein gerades Stück Strecke vor sich hatten, nahm Scott eine Hand vom Lenker und legte sie ihr aufs Knie, eine kleine, liebevolle, vertraute Geste, die ihr naheging, weil sie einen Funken Hoffnung einfach nicht aufgeben wollte.
„Frierst du nicht?“, rief er über die Schulter nach hinten.
„Nein.“ Bei dem Lärm des Motors, dem Fahrtwind und mit den Helmen war dies das Äußerste, was an Verständigung möglich war.
Was sie von seinem Heim gesehen hatte, hatte sie erstaunt. Sie hätte nicht sagen können, was sie erwartet hatte, wahrscheinlich etwas, das mehr nach einer Junggesellenbude aussah. Das Haus gefiel ihr. Alles wirkte sauber und ordentlich, wenn auch ein wenig spartanisch, was die Dekoration anging. Und dass er seine Familienfotos offensichtlich in Ehren hielt, fand sie sympathisch.
Chloe schluckte hart und klammerte sich noch fester an ihn, als Scott von der Hauptpiste auf eine Loipe abbog, die wie ein Trampelpfad nur eine schmale Schneise bildete und kaum geebnet war. Der enge Weg wand sich zwischen Bäumen hindurch. Am Motorengeräusch erkannte sie, dass sie eine Steigung hinauffuhren. Auf einer kleinen Lichtung, die gerade groß genug war, um den Schlitten zu wenden, hielt er an und stellte den Motor ab. Sie stiegen von der Maschine und setzten den Helm ab. Chloe sah sich um, konnte jedoch nichts entdecken, was diesen Ort besonders auszeichnete.
„Hier entlang“, sagte er und reichte ihr die Hand, um ihr Halt zu geben.
Der Schnee war zwar nicht sehr tief, aber matschig und wegen des unebenen Untergrunds etwas tückisch. An den Spuren erkannte sie, dass seit dem letzten Schneefall schon jemand hier gewesen sein musste. „Wohin gehen wir?“
„Du wirst sehen.“
Er führte sie zielsicher und warnte sie hie und da vor einer Baumwurzel, die im Schnee verborgen war. Offenbar kam er häufiger an diesen Ort und das nicht nur während der Wintersaison.
Als sie die Baumgrenze erreichtenund ins Freie traten, blieb Chloe unwillkürlich stehen. Der Ausblick verschlug ihr den Atem. Zu ihren Füßen lag ihre Heimatstadt, die man von diesem Platz aus über die Wälder hinweg komplett überblicken konnte. Das Dach des Hauses ihrer Eltern hatte sie schnell ausgemacht, Scotts Heim ein Stück weiter im Osten zu entdecken, dauerte länger, da es von Bäumen halb verdeckt war.
„Im Sommer, wenn die Laubbäume grün sind, ist die Sicht nicht so gut“, meinte Scott, „aber jetzt siehst du fast alles.“
Alles – das hieß, alles, was ihm etwas bedeutete. Das klang deutlich aus seinen Worten heraus und war auch das, was sie ihm am Gesicht ablesen konnte. Er liebte seine kleine Stadt, die Stadt, die sie so ungeduldig hinter sich gelassen hatte, um aufs College zu gehen. Ihm würde es nie einfallen, irgendwo anders zu leben.
„Es ist wunderschön“, sagte sie, weil sie wusste, er erwartete etwas in der Art. Es war wirklich schön anzusehen. Wie eine Spielzeugstadt lagen die Häuser unter einer Schneedecke da. Aus vielen Schornsteinen kräuselte sich eine dünne Rauchfahne in den klaren Himmel. Es war ein Anblick fast wie auf einer Weihnachtspostkarte. Deutlicher könnte der Kontrast zu ihrer gewohnten Umgebung in der von Menschen wimmelnden, lärmenden Großstadt Boston nicht sein. Dies war der Ort, wo Scott hingehörte. Hier kannte nicht nur jeder jeden mit Namen, sondern man erinnerte sich vermutlich auch noch an die Jugendstreiche aus der Schulzeit.
Sie war in der Großstadt richtiggehend aufgeblüht. Die Anonymität, Museen, Theater und die Möglichkeit, zu jeder Stunde jede nationale Küche zur Verfügung zu haben, nach der einem der Sinn stand, das war ihre Welt. Von wegen montags Beef-Stew-Special. Man konnte in Boston selbst morgens um drei Wan Tan mit Krabbenfleisch bekommen – ins Haus geliefert.
„Wie kommt es, dass ich noch nie hier oben gewesen bin?“ Immerhin hatte sie die ersten neunzehn Jahre ihres Lebens in dieser Gegend verbracht. Ihre Stadt hatte sie aber bisher nie aus dieser Perspektive gesehen.
„Das Land gehörte früher einem Typen aus Connecticut. Der hatte es eingezäunt und der Öffentlichkeit den Zutritt verwehrt. Als sein Sohn das Anwesen erbte, machte er das Grundstück für Wanderer im Sommer und
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