Alle Tage: Roman (German Edition)
graue Strickweste auszuziehen, und selbst so schien er noch zu frieren. Von seinen Fingern wehte weiße Asche in die Straße hinaus. Wenn er sich hinterher stürzte, könnte ich nichts dagegen unternehmen.
Ich glaube, sagte Mercedes, ich verstehe sehr gut, was Sie meinen.
Ach so?! Er sah sie scharf an. Runde Augen, spitze Nase. Als wär’s auch ein wenig verächtlich. Das hat sie in diesem Moment erst über ihn erfahren. Er besitzt Verachtung. Das schmerzt ein wenig. Die Stimme peitschend, mit einem rattigen Pfeifen im Unterton: Was meine ich denn?
Mercedes wagte sich mit leiser Stimme und einem korrekten, langen Satz an dem soeben verknüllten entlang, und tatsächlich. Er warf die Kippe aus dem Fenster – ihre Lider zuckten: auch das hätte sie nicht erwartet – und setzte sich wortlos wieder an den Tisch, der Rauch aus seinem Mund fiel auf die Seiten.
Wollen wir es so schreiben? fragte Mercedes.
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit kamen das Kind und sein Begleiter zurück, man stellte sich vor. Omar und Max kannten sich bereits, der gut aussehende Große war neu. Guten Tag, sagte er und lächelte höflich, den Kopf etwas schief gelegt. MM starrte ihn verblüfft, ja regelrecht ehrerbietig an. Die Temperatur, die Textur, der Druck seiner nicht von Nikotinflecken verschandelten Hand. Die Minute, die Mercedes brauchte, um die Neuankömmlinge ins Nebenzimmer zu begleiten, verharrte MM weitgehend regungslos und sagte dann zur zurückkehrenden Mercedes:
Wissen Sie was, ich denke, den Rest schaffe ich auch allein.
Ich verehre Sie, sagte er noch in der Tür, seine Augen leuchteten aus ihren Höhlen, die Schuppen aus seinem Haar. Ich danke Ihnen, und ich entschuldige mich. Ich werde die Kippe wieder einsammeln. So ich sie finde. Wenn nicht, dann eine andere. Irgend eine Kippe.
Er lächelte, sie auch, sie drehte sich lächelnd von der Tür weg:
Na, ihr beiden? Hattet ihr einen schönen Tag?
Zum Tausch für das verpatzte Wochenende machte Mercedes den Montag frei, erledigte einpaar langweilige Sachen – niemand bügelt so gut wie die Frau von der thailändischen Wäscherei – und wartete auf den Nachmittagsunterricht. Dieser verlief wie immer, sie tranken Tee. Anschließend ging sie zum Jour fixe, er nach Hause. Sie hatten denselben Weg.
Normalerweise (immer) ist es an ihr, ein Gespräch anzufangen und in Gang zu halten, diesmal sagte sie nichts, also schwiegen sie. Auf halber Strecke wurden sie von einem Touristenpaar nach dem Weg gefragt. Er übersetzte ihr die Frage, sie beantwortete sie, er übersetzte zurück, die Fremden dankten. Danach gingen sie wieder schweigend. An der letzten Ecke vor dem Café verabschiedete er sich. Der Händedruck beidseitig so zart, dass er kaum da ist. Sie ging weiter, blieb aber schon nach zwei Schritten wieder stehen, ssssss, stand auf einem Bein. Tagsüber zuviel unterwegs gewesen, jetzt: stechender Schmerz im Knöchel.
Was er für sie tun könne? Ein Taxi rufen?
Das lohnt sich nicht mehr. Es ist gleich da vorne.
In diesem Fall begleitet er sie. Sie ist so klein und leicht, er hätte sie gut hintragen können, aber konventionell bot er ihr wieder nur einen Arm an, sie hielt sich fest.
Sieh an! schrie Erik am Kopfende des Tisches. Wen haben wir denn da?! (Abel senkte schamhaft die Lider. Tatjana hob eine Augenbraue.) Natürlich erinnern wir uns alle, mit großer Herzlichkeit und ehrlichem Interesse nehmen wir dich in unseren Kreis auf, du kennst doch noch meine Frau Maya, und das sind Max, ach, ihr seid euch auch schon begegnet, mein alter Freund Juri, ihm noch nicht, und, natürlich, meine alte Widersacherin Tatjana, die jetzt erwartungsgemäß spöttisch die für meinen Geschmack viel zu roten Lippen verzieht, was willst du trinken?
Wie steht es um das mit Spannung erwartete universelle Werk ? fragte Erik, als der Espresso und der Cognac gebracht wurden.
Danke, sagte Abel zur Kellnerin.
Hm? (Erik)
Entschuldigung, sagte Abel, ich habe nicht…
Erik wiederholte die Frage. Die Geschichte mit der komparativen Linguistik.
Abel nahm einen Schluck Espresso.
Mein Computer wurde gestohlen.
Oh, sagte Maya. Wie ist das passiert?
Ja und? sagte Erik. Man hat doch wohl eine Sicherungskopie?
Man hat nicht.
Oh.
Schweigen.
Wie geht es Omar? fragte Maya.
Sehr gut, danke, antwortete Mercedes.
Was an diesem Abend für längere Zeit das Letzte war, das sie laut aussprach.
Wo waren wir stehen geblieben?
Ich verstehe Sie sehr gut, wandte sich Tatjana (die so tat, als würden
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