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Alle Tage: Roman (German Edition)

Alle Tage: Roman (German Edition)

Titel: Alle Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terézia Mora
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verabschiedeten sich höflich, dann ging er rechts, sie links, der Rest ist bekannt.

    Damals, an jener Straßenecke, war das letzte Mal alles in Ordnung . Ein nicht schlechter Punkt in ihrer beider Leben, alles hatte einen und war an seinem Platz, aber dann verlor er die Orientierung, verhedderte sich in einer gewalttätigen Affäre und verschwand, und ihre Verhältnisse entwickelten sich auch nicht gerade zum Besten. Jetzt bot sich die Gelegenheit, neu anzusetzen. Wir sind ein wenig im Kreis gelaufen, oder nein, das ist nicht mehr derselbe Kreis, ich bin eine andere, nicht ganz und gar, aber um entscheidende Nuancen, und er? Das wusste man noch nicht so genau.
    Mercedes hatte den Pass mit dem inkriminierten Datum darin nicht gesehen, aber anhand der ihr zur Verfügung stehenden Daten rechnete sie aus, dass bald zehn Jahre um sein müssten. Es gab also einerseits den Zeitfaktor, andererseits musste man doch behutsam vorgehen. Sich erinnern: Was wissen wir bereits über ihn? Was weiß Omar? Was ahnen wir? Was gibt es zu sehen?
    Die folgenden Wochen boten sich für Beobachtungen an. Diesmal, sagte Omar, möchte ich nicht nur Russisch, sondern auch Französisch lernen. Montags Russisch, donnerstags Französisch. In Ordnung, sagte Mercedes und erteilte Abel den Auftrag. Er nahm, ohne sich zu wundern oder zu zögern, an. Mercedes ihrerseits griff auf Eriks Angebot zurück, von irgendwas muss ich die Stunden schließlich bezahlen. Anfangs arbeitete sie mit Rücksicht auf den Knöchel von zu Hause aus, was sich gut traf, denn so konnte sie nebenbei auch ihr Französisch auffrischen. Ich setze mich ganz still in die Ecke und höre zu, und nebenbei sehe ich auch.
    Wie sieht er aus? Wie ist seine Haltung, wie sind seine Bewegungen? Beim Essen, beim Unterricht, beim Kommen-und-Gehen? Beschaffenheit und Zustand der sichtbaren Körperstellen? Wenig schwarze Haare auf den untersten Fingergliedern, sonst annähernd makellose helle Männerhaut, Sehnen. Spuren körperlicher Arbeit: keine. Fehlerlose Fingernägel, etwas länger vielleicht, als man es erwarten würde. Eine kleine Unregelmäßigkeit in den unteren Schneidezähnen. Wenn plötzlich die Weisheit einen in der Mitte zusammendrückt. Ein Haar wie Rabenfedern, einen Haarschnitt würde ich das nicht nennen. Sieht er alles in allem gut aus? Manchmal würde ich sagen: ja, manchmal weiß man’s nicht. Dasselbe Gesicht und dennoch. Eine Sache des Blickwinkels und davon gibt es unzählige. Lichteinfall, Tageszeit, Gesprächsthema. Ein Gesicht wie der Mond: manchmal Krater, Dunkelheit, dann wieder voll, weiß, strahlend. Letzteres macht der Blick. Was für ein Blick.
    Wenn man ihn im Anschluss an die Stunde zum Abendessen einlädt und ihm Fragen stellt, antwortet er. Höflich, knapp und allem Anschein nach vollkommen aufrichtig.
    Wo kommt er her? Wie ist es dort? Respektive: Wie war es? Das Klima, die Architektur? Gab es ein Theater nur für Gastspiele, ein Hotel, Gottes- und Autohäuser?
    Eine U-Bahn? (Das war Omar.)
    Und Sie können also Ihre Mutter nicht besuchen?
    Mein Vater ist auch verschollen, sagt Omar.
    Mercedes interessiert sich neuerdings für Flüchtlingsfragen, wie ist die Rechtslage, welche spezifischen Krankheiten. Dafür ist er allerdings kein guter Gesprächspartner, wundert es dich, wie würde es dir an seiner Stelle gehen, ich schäme mich fast, widmen wir uns wieder vermutlich Unverfänglicherem:
    Was ist alles passiert, seitdem man sich das letzte Mal gesehen hat? Hat er eine neue Wohnung? Wo? Wovon lebt er? (Beobachtung: Fährt häufiger Taxi, als man das bei jemandem wie ihm annehmen würde.) Hat er Geld? Woher? Keine Papiere, aber Geld? Geht das? (Bist du bei der Mafia, fragte Mira eines Tages am Telefon.) Man weiß oft nicht, wovon die Leute leben. (Was war das noch mal mit den Drogen?)
    Was interessiert Sie mehr: die wissenschaftliche Arbeit oder der Unterricht?
    Beides ist gut. Ja, aber was ist besser?
    Mercedes ihrerseits vermisst die Kinder. Ob sie mich auch vermissen?
    Warum magst du ihn, fragte sie Omar, ohne jede Einleitung, eines Morgens, er wusste dennoch, was oder wen sie meinte. Er zuckte die Achseln und sprach weise: Es ist einfach so.
    Später, als sie wieder mobiler war, fragte sie auch anderes. Wir fahren nächstes Wochenende ans Meer. Würden Sie uns begleiten? Haben Sie die Holzkathedrale seit ihrer Fertigstellung gesehen? Kannst du mir etwas zu den Ikonen sagen? Meine Mutter hat Höhenangst, fährst du mit mir Riesenrad? Übrigens ist er

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