Alle Tage: Roman (German Edition)
Kopf ist rund, sie trägt die Haare toupiert, wie es Mode war, als sie jung war. Hereingefallen auf den füchsigen Magyaren ist sie, sein hoher Gang war’s, der mich verführt hat, und die Stimme. Er konnte sie verstellen wie keiner, er konnte mit der Stimme eines kleinen Mädchens dem Mann von den Gaswerken durch die geschlossene Tür sagen, meine Eltern wollen nicht, dass ich Fremden die Tür öffne. Nicht, dass wir die Rechnung nicht hätten bezahlen können, aber was haben wir gelacht, verstehst du, so war er in allem, es war auch gerade die Zeit dafür, aber dann, aber dann.
Die anderen beiden heißen Oma und Vesna. Sie sind alle gleich alt, sie tragen dieselben weißen Kleider, darüber weiße Frisuren aus der Zeit des Rokoko. Gelbe Plastikkämme halten sie in Form. Sie sitzen in einem weißen Flur, an einem weißen Tisch, zwei würfeln, eine strickt. Die Wolle ist gelblich.
Das wird ein Jüppchen für dich.
Sie wärmen ihre Seelen mit ähnlichen Gebilden. Verständlich, arktisch kalt, wie es hier ist.
Vielen Dank, sage ich. Aber das ist zu klein für mich. Das ist doch keine Spanne breit.
Mach dir keine Sorgen, mein Kleiner.
Sie lachen: Mach dir keine Sorgen.
Die Wolle, mit der Mutter strickt, ist schmutzig. Schwarze, ölige Fladen kleben darin. Als hätte sie sie aus dem Fluss geklaubt. Dort treibt alles Mögliche vorbei, bleibt in den Steinen unter der Brücke hängen und stinkt. Ich möchte nicht in Abfall gekleidet werden. Am Ende wird mir natürlich nichts anderes übrig bleiben. Ein höfliches Kind sein. Ein Hemd aus Brennnesseln tragen den ganzen Weihnachtsabend lang. Darunter wachsen Pusteln. Nachts in einem Dornenbett liegen. Kratz dich nicht soviel, und das bei Tisch, das ist ekelerregend.
Alles, was ich höre, sind Klagen! Du, mein Lieber, scheinst dir nicht im Klaren zu sein über die Situation. Wir dürfen froh sein, dass das Gebäude nicht über uns zusammenfällt. Die Waschbären gehen ein und aus. Der Wind sowieso. Die Löcher in den Wänden stopfen wir mit Öldosen von der humanitären Hilfe. Später, wenn sie leer sind, züchten wir Tomaten darin und heben das Wasser auf, das es nur zwischen sieben und neun Uhr morgens gibt. So sieht es aus. Wir leben hier wie im Lager.
Das kommt daher, dass es wirklich eins ist. Für Witwen wie wir.
Ich mache keinem einen Vorwurf. Ich bin am Leben, in meinem Alter ist das genug.
Man kann sich auch an kleinen Dingen erfreuen.
So ist es. Wir erfreuen uns an den kleinen Dingen.
Manchmal setzen wir uns mit dem Gesicht zum Meer.
Es gibt hier kein Meer, sage ich.
Sie schweigen. Mutter strickt. Die beiden anderen schütteln den Würfelbecher.
Ich mag diese Frauen nicht besonders. Hoffentlich merken sie es nicht. Sie werden bald sterben. Hoffentlich sterben sie bald. Man ist immer schuld, auch wenn man nicht schuld ist.
Sie lächeln verzeihend, obwohl etwas steif. Das ist, weil sie so tun müssen, als hätten sie diese Gedanken nicht gehört. Aber sie haben sie gehört. Sie wissen alles. Du kannst noch so brav sein. Sie kippen deine Zähne auf den Tisch.
Anstatt, dass du dreimal am Tag die Hand derer küsstest, die soviel für dich getan haben.
Da sieht man wieder, dass es nicht stimmt. Kinder sind nicht unschuldig.
Ich bin kein Kind.
Nein, ein ziemlich großer Mann.
Das ist und bleibt unvorstellbar für eine Mutter. Dieser Körper, der geworden ist. Vierundzwanzig Stunden habe ich in den Wehen gelegen. Oder waren es fünf Tage? Starb ich am Ende vor Erschöpfung? Ich erinnere mich nicht. Es ist so lange her. Mein Sohn ist auch schon ein alter Mann.
Ich bin dreiunddreißig.
Darauf sagt keiner was. Weder ja noch nein. Vielleicht stimmt es, und ich bin alt geworden, ohne es zu merken. Ein Spiegel wäre jetzt gut, und wenn’s eine Scherbe wäre. Aber: nichts. Schon möglich, dass mich das Gift alt gemacht hat. Bedeutet das, dass ich jetzt ein Recht habe, hier zu bleiben? Ist es das, was ich erkennen sollte? Hallo?! Darf ich jetzt hier bleiben?
Ehrlich gesagt, will ich das gar nicht. Allerdings weiß man nicht, was draußen ist. Das Milchglas. Liegen draußen schwarze Trümmer oder im Gegenteil: blinken Majolikamonumente in der Sonne? Was bedeutet die Stille? Dass der Mensch die Erde verlassen hat oder dass er sich, im Gegenteil, soweit entwickelt hat, dass sein Leben in den Städten so leise wie Flüstern ist. Vielleicht vergiftet einen draußen der Rauch oder das geruchlose Atom, oder aber es riecht wie es seit sehr langer Zeit nicht oder
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