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Alle Tage: Roman (German Edition)

Alle Tage: Roman (German Edition)

Titel: Alle Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terézia Mora
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noch nie gerochen hat: nach reinem Äther. Vielleicht ist draußen auch der große Ozean, wie alle sagen, an dessen Ufer wir auf einer unendlichen Bankreihe als alte Menschen sitzen, das Gesicht der Sonne zugewendet, dem Rauschen. Vielleicht ist dort die Ewigkeit, nur hier drin geht die Zeit noch ihren alten Kettengang. Vielleicht ist dort aber auch das Garnichts. Bevor man sich nicht sicher sein kann, ist es ein zu hohes Risiko. Das ich vielleicht doch eines Tages eingehen werde. Ich werde das Fenster öffnen und nach einem unendlich kurzen Blick, den ich auf das Nichts geworfen habe, selbst Teil dessen werden. Jemand wird vorsichtig das Fenster hinter mir schließen. Mit einem Besenstiel zudrücken.
    Ich rücke unauffällig in die Nähe der Fenster, um die Lage zu prüfen. Keine Überraschung ist, dass es keine Klinken gibt. Es ist nicht so einfach, das Fenster zum Nichts zu öffnen. Oder zum Etwas. Das weiß man eben nicht. Die Fenster nach draußen sind lückenlos und fest geschlossen, dafür hängen die Türen im Inneren schief in den Angeln. Hier sehen Sie die Desolation der zweiten Welt. Anstatt sich zu bemühen, das Kaputte herzustellen, haben sie alles noch mehr kaputt gemacht. Es stinkt zum Himmel. Als wäre die Luft voller giftiger Sporen. Ich habe Angst zu atmen.
    Die Greisinnen schnuppern vergnügt in die Luft: Bald gibt’s Mittagessen. Wir essen kein Mittagessen wegen der Linie. Oder weil es keins gibt. Na gut, es gibt kein Mittagessen. Aber Frühstück immer. Und am Abend essen wir Kekse und trinken Tee. Süßen Zitronentee, kleine gelbe Würmchen in Gläsern, der Keller steht voll damit. Den Zähnen schadet’s zum Glück nicht mehr. Schlimm sind die Nachmittage. Zwischen vier und zehn habe ich den meisten Hunger. Ich schlafe lächelnd ein, weil ich weiß, morgen früh wird er ganz klein geworden sein. Morgens ist der Tod ein Säugling.
    Schön und gut, sagt Großmutter, aber die Frage ist doch: Was machen wir mit ihm? Jetzt, da er schon mal da ist? Kommt unangemeldet, höflich ist das nicht gerade.
    Dafür sieht man ihn nach langer Zeit wieder, das wiegt es auf.
    Trotzdem. Es wäre gut zu wissen, wie lange er zu bleiben gedenkt. Ich weiß nicht, ob wir uns das leisten können. So ein Mann isst eine Menge. Ich an seiner Stelle würde schauen, wie ich meine Familie entlasten kann. Vielleicht findet sich in den Trümmern der Kantine neben dem Telegrafenamt noch etwas zu essen. Gebratene Äpfel aus der Asche sind eine Delikatesse.
    Nicht, dass ich das nicht liebend gerne täte, aber ich weiß einfach nicht, wie man hinauskommt und wo das Telegrafenamt und wo die Kantine ist, also tue ich so, als hätte ich das nicht gehört.
    Wir können ihn uns nicht leisten, sagt Großmutter. So einen großen Mann. Wir sind bisher gut zurecht gekommen ohne Männer. Wie unter Schwestern. Es ist besser, keine Männer hier zu haben.
    Aber wenn wir ihn ablehnen, könnte das sein Tod sein. (Die gute alte Vesna.)
    Jetzt schweigen wir alle ein bisschen. Ich versuche, mich so klein zu machen, wie es nur geht. Sitze mit krummem Rücken auf einem kleinen Holzstuhl. Hartes Holz, harte Knochen. Für die Dauer der Besuchszeit ein netter, solider Mensch sein, der Senioren respektiert und unaufdringlich Zuneigung zu seiner eigenen Frau erkennen lässt, ohne jedoch sexuell ein- oder zweideutig zu werden, weder Vorgenannter, aber ganz besonders nicht vorpubertären Stiefkindern gegenüber. Das muss einen vollintegrierten Eindruck erwecken. Unsere Werte sind nicht nur oberflächlich angenommen worden, sondern sind in Fleisch und Blut übergegangen. Zum Glück beschäftigen sie keine Gedankenleser.
    Überhaupt, er ist nicht untersucht worden.
    Von Neuankömmlingen muss ein vollständiges Register erstellt werden. Ohne das geht es nicht. Typische Krankheiten sind: Impotenz, Dehydrierung, Depression, Herz- und Magenbeschwerden. Wenn du unterwegs Krebs bekommst, hast du’s erlebt. Heilung ist so eine Sache. Aber für eine Untersuchung ist es nie zu spät.
    Fragt sich nur, wer das schon wieder machen soll?
    Am Ende bleibt es wie immer an uns hängen.
    Wie denn auch nicht, es gibt hier nur uns.
    Er ist dein Sohn.
    Wenn ich mir den milchigen Geruch seines Bauches oberhalb der Schamhaargrenze vorstelle, wenn ich mir den Geruch zwischen seinen Schulterblättern, wenn ich mir den Geruch seines Nackens, den Geruch seiner Brustwarze, seiner Ellenbeuge und seiner Handfläche vorstelle, wird mir schwindlig, und mein Mund läuft voller Wasser.
    Das

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