Alle Wege führen nach Rom: Die ewige Stadt und ihre Besucher (German Edition)
sich nur bei aufmerksamerem Hinsehen als das zerknitterte Wams des Vaters zu erkennen gaben. Dies war dem neuen Gebrauch nicht einmal angepasst worden. Die Beine des Jungen steckten in den Ärmeln, und das Ganze war mit einer Kordel festgehalten.
Manchmal entwickeln sich aus Gogols Beobachtungen ganze Geschichten – «wahre Romane» nannte er sie. Die Protagonistinnen eines dieser «Romane», den er der Freundin Balabina in einem Brief vom 7. November 1838 erzählte, waren zwei römische Schwestern, «die kräftigen, dicken Signorine Conti», Bekanntschaften, wenn nicht gar Freundinnen von Balabina selbst. Es war dem Briefschreiber und der Adressatin bekannt, dass die beiden Schwestern unter der Fuchtel ihrer Mutter standen, die überaus auf ihre Keuschheit bedacht war. Die Sorge ging so weit, dass sie den Töchtern sogar untersagte, am Gottesdienst in Sankt Peter teilzunehmen. Doch aller Vorsichtsmaßnahmen zum Trotz verliebten sich die Schwestern leidenschaftlich in zwei Gendarmen, Repräsentanten also der päpstlichen Gewalt, die Gogol scherzhaft der mütterlichen gegenüberstellt. Die Mutter gab sich natürlich nicht geschlagen, sondern versuchte mit allen Mitteln, die Rendezvous der Töchter mit ihren Liebhabern zu verhindern, sodass diese sich schließlich gezwungen sahen, ihre Mutter mit Opium in Schlaf zu versenken, um ihre Gendarmen treffen zu können: bis die «Mammina», wie Gogol sie scherzhaft nennt, den Betrug entdeckte und die Töchter einschloss. Diese entkamen jedoch aus dem Haus und flüchteten in ein Kloster, von wo aus sie ihren Beschützer, einen Monsignore, zur Hilfe riefen, der die Heirat mit den beiden Gendarmen anordnete. Nur waren diese so mittellos, dass die Mutter, die etwas Vermögen hatte, für die beiden jungen Familien aufkommen musste. Die «Signorine Conti» müssen Nachbarinnen von Gogol gewesen sein, was erklärt, warum er so gut über ihre Liebesaffäre Bescheid wusste. Er kannte alle Leute in seinem Viertel, wie alle auch ihn kannten. Man nannte ihn hier den «Signor Niccolò».
Gogols Angewohnheit, die Monumente zu personifizieren, erklärt sich nicht nur aus seiner wohlbekannten Lust am Grotesken, sie ist ebenso seinem Interesse an den Menschen aus dem Volk geschuldet. Gogol war ein aufmerksamer Beobachter des römischen Volkslebens. Seine Briefe aus Rom sind voll von Details darüber. Er widmete dem Leben des römischen Volks auch eine fragmentarische Schrift, angesiedelt zwischen Erzählung und Essai, an der er seit 1839 arbeitete, um sie dann 1842 mit dem Titel Rom zu veröffentlichen. Die erste Tugend, die Gogol an den Römern schätzte, war ihr Witz, kein Wunder beim Autor der Erzählung Die Nase . Im schon erwähnten Brief an Maria Balabina vom April 1838 erzählt Gogol, dass das römische Volk kein irgendwie bemerkenswertes Ereignis vorbeigehen lasse, ohne es mit beißenden Bemerkungen in der Form von Facezien oder Epigrammen zu kommentieren. Dafür führt er zwei Beispiele an. Das erste hing mit der Kardinalserhebung des Präfekten der Vatikanischen Bibliothek, Giuseppe Gasparo Mezzofanti, einem Bekannten von Gogol und Balabina, zusammen, der jetzt, schreibt Gogol, in roten Strümpfen in Rom herumlaufe. Am Tag seiner Erhebung war das Wetter sehr schlecht gewesen, doch gleich danach kam während der Karnevalsfeste strahlendes Wetter auf, und dieser mit der Kardinalserhebung Mezzofantis verbundene, meteorologische Umschwung gab Anlass zu einem sarkastischen Kalauer, den Gogol auf italienisch wiedergibt: «Il Dio vuol carnevale e non vuol cardinale» – Gott will Karneval und keinen Kardinal. Dieser Kalauer erinnerte ihn an ein vom Volk geprägtes Epigramm, das diesmal den herrschenden Papst Gregor XVI., mit weltlichem Namen Alberto Capellari, zur Zielscheibe hatte. Dieser hatte im Vorjahr zur allgemeinen großen Missbilligung die Karnevalsfeste, die dem römischen Volk überaus wichtig waren, untersagt. Gogol erinnert seine Freundin daran, dass der Papst wegen seiner großen Nase im Volk Pulcinella genannt wurde, worauf jenes Epigramm anspielt, das Gogol ebenfalls auf italienisch wiedergibt: «Oh! questa sì ch’è bella/proibisce il carnevale pulcinella» – ausgerechnet Pulcinella, die beliebteste Karnevalsmaske, spottete man, verbietet den Karneval.
Das Haus, in dem Gogol wohnte, befand sich in einem von kleinen Leuten bewohnten Viertel, wo Ziegen weideten und man das Geschwätz der Frauen am Fenster hören konnte (Abb. 21). Eine jede wusste alles von den
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