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entstand unter ihnen. „Sie ist weg.“
„Weg!“ wiederholte er.
„Geflohen, mein lieber Alfred!“ sagte der Doktor mit gebrochener Stimme und schlug sich die Hände vors Gesicht. „Von ihrem Zuhause und von uns fort. Heute nacht. Sie schreibt, daß sie ihre unschuldige und nicht zu tadelnde Wahl getroffen hat; bittet darum, daß wir ihr verzeihen; fleht uns an, sie nicht zu vergessen, und ist fort!“
„Mit wem? Wohin?“
Er sprang auf, als wollte er die Verfolgung auf nehmen, doch als man ihm Platz machte, blickte er wild in die Runde, wankte zurück und sank in seiner früheren Haltung nieder und umschloß eine von Grace’ kalten Händen mit den seinen.
Es gab ein eiliges Hinundherrennen, Verwirrung, Lärm, Durcheinander und keinen Entschluß. Einige zerstreuten sich in den Straßen, einige nahmen sich ein Pferd, einige bekamen Lichter, und einige unterhielten sich und machten geltend, daß keine Spur zu verfolgen war. Etliche näherten sich ihm freundlich mit einem Blick, als wollten sie ihm Beileid wünschen. Etliche ermahnten ihn, daß Grace ins Haus gebracht werden müsse und daß er es verhindere. Er hörte sie nicht und rührte sich nicht.
Der Schnee fiel schnell in dichten Flocken. Einen Augenblick lang sah er in die Luft und dachte, daß diese weiße Asche, die auf seine Hoffnungen und sein Elend ausgestreut würde, gut zu ihnen paßte. Er schaute um sich auf die weiß werdende Erde und dachte daran, daß Marions Fußspuren, kaum eingedrückt, verwischt und gänzlich zugedeckt würden und selbst diese Erinnerung an sie ausgelöscht würde. Doch er spürte die Witterung nicht, und er regte sich nicht.
Dritter Teil
Seit jener Nacht der Rückkehr waren sechs Jahre ins Land gezogen. Es war ein warmer Herbstnachmittag, und es hatte stark geregnet. Die Sonne brach plötzlich hinter den Wolken hervor, und das alte Schlachtfeld, das bei ihrem Anblick als grüne Fläche hell und heiter funkelte, sendete blitzschnell einen Gegengruß, der sich über das Land ausbreitete, als ob ein fröhlicher Leuchtturm angezündet worden wäre und von tausend Orten her antwortete.
Wie herrlich die Landschaft in dem Licht aufflammte und wie sich jene üppig wachsende Macht ausdehnte und alles ringsum erhellte, als wäre ein himmlisches Wesen vorbeigezogen. Der Wald, der zuvor eine düstere Fläche gewesen war, zeigte seine verschiedenen Farbtöne von Gelb, Grün, Braun und Rot, die verschiedenen Formen seiner Bäume, auf deren Blättern Regentropfen glitzerten, die beim Herabfallen aufblitzten. Es schien, als wäre das leuchtend grüne Weideland noch vor einer Minute blind gewesen und hätte nun den Gesichtssinn entdeckt, um zum strahlenden Himmel aufzublicken. Getreidefelder, Hecken, Zäune, Gehöfte und mit Grasbüscheln bewachsene Dächer, der Kirchturm, der Bach, die Mühle; all das trat heiter aus der traurigen Finsternis hervor. Vögel sangen lieblich, Blumen hoben ihre hängenden Köpfe, süße Düfte stiegen aus dem gestärkten Boden auf; die blaue Weite droben dehnte sich aus und verbreitete sich; schon durchdrangen die schrägen Sonnenstrahlen todbringend die dunkle Wolkenbank, die in ihrem Flug langsam dahinzog, und ein Regenbogen, der Geist all der Farben, die die Erde und den Himmel verschönten, spannte seinen weiten Bogen mit triumphierendem Glanz.
Zu dieser Zeit grüßte ein kleines Wirtshaus an der Landstraße, das gemütlich hinter einer großen Ulme mit einer trefflichen Bank für Müßiggänger um ihren dicken Stamm versteckt lag, den Reisenden mit einer freundlichen Fassade, wie sie ein gastfreundliches Haus haben sollte, und lockte ihn durch zahlreiche stumme, doch vielsagende Versprechungen zu einer behaglichen Aufnahme. Das rötliche Aushängeschild im Baum beäugte mit seinen goldenen, in der Sonne flimmernden Buchstaben den Vorübergehenden zwischen den grünen Blättern hindurch wie ein lustiges Gesicht und versprach viel Vergnügen. Die Pferdetränke, die mit klarem, frischem Wasser gefüllt war, und der Boden unter ihr, auf dem duftendes Heu verstreut lag, ließen jedes vorbeikommende Pferd die Ohren spitzen. Die karmesinroten Vorhänge in den unteren Räumen und die blütenweißen Gardinen oben in den kleinen Schlafzimmern lockten bei jedem Lüftchen: „Kommt herein!“ Auf die leuchtend grünen Fensterläden waren goldene Inschriften über Bier und Ale und unverdünnte Weine und gute Betten geschrieben und ein rührendes Bild von einem braunen, überschäumenden Krug gemalt. Auf den
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