Alle Weihnachtserzählungen
möglich gewesen wäre. Ihre Schwester ruht, und sie hat es besser, als sie es bei mir gehabt hätte, selbst wenn ich der geblieben wäre, für den Sie mich gehalten haben und der ich selbst einst zu sein glaubte.“
Redlaw machte eine hastige Handbewegung, als wollte er dieses Thema beiseite schieben.
„Ich spreche wie ein Mensch, den man vom Grab weggerissen hat“, fuhr der andere fort. „Ich hätte mir gestern abend mein eignes Grab bereitet, wenn nicht diese segenspendende Hand gewesen wäre.“
„Du liebe Güte, auch er hat mich gern!“ schluchzte Milly im Flüsterton. „Da ist noch einer.“
„Gestern abend hätte ich mich Ihnen nicht einmal um ein Stück Brot in den Weg stellen können. Doch heute ist meine Erinnerung an das Vergangene so stark aufgewühlt und mir so lebendig vor Augen geführt – ich weiß nicht, wie –, daß ich auf ihren Vorschlag hin gewagt habe, zu kommen und Ihre Gabe entgegenzunehmen und Ihnen dafür zu danken und Sie zu bitten, Redlaw, daß Sie in Ihrer letzten Stunde in Gedanken ebenso gütig gegen mich sind wie jetzt in Ihren Taten.“
Er wandte sich zur Tür und hielt einen Augenblick auf seinem Weg inne.
„Ich hoffe, mein Sohn erweckt um seiner Mutter willen Ihr Interesse. Hoffentlich verdient er es. Sollte mir mein Leben noch lange erhalten bleiben und sollte ich erkennen, daß ich Ihre Hilfe nicht mißbraucht habe, werde ich ihn nie wiedersehen.“
Beim Hinausgehen hob er seine Augen das erstemal zu Redlaw auf. Redlaw, dessen unverwandter Blick auf ihn geheftet war, streckte verträumt die Hand aus. Er kehrte zurück und berührte sie mit seinen beiden Händen und ging mit gesenktem Kopf hinaus.
Während des kurzen Augenblicks, der verging, als Milly ihn schweigend ans Tor brachte, ließ sich der Chemiker auf seinen Stuhl fallen und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Als sie, von ihrem Mann und ihrem Vater begleitet (die beide sehr um ihn besorgt waren), wiederkam und ihn so vorfand, vermied sie es, ihn zu stören, und erlaubte das auch keinem anderen. Sie kniete sich neben dem Stuhl hin, um eine warme Decke über den Jungen zu breiten.
„Genauso is das. Das sag ich ja immer, Vater!“ rief ihr bewundernder Ehemann aus. „In Mrs. Williams Brust steckt ’n mütterliches Gefühl, dem man freien Lauf lassen muß.“
„Ja, ja“, sagte der alte Mann, „du hast recht. Mein Sohn William hat recht!“
„Sicherlich ist es wohl das beste, meine liebe Milly“, sagte Mr. William zärtlich, „daß wir keine eigenen Kinder haben. Und doch wünschte ich manchmal, daß du eins zum Liebhaben und Aufziehen hättest. Unser kleines verstorbenes Kind, in das du solche Hoffnungen gesetzt hattest und das nie geatmet hat, das hat dich still gemacht, Milly.“
„Bei der Erinnerung daran bin ich sehr glücklich, lieber William“, antwortete sie. „Ich denke jeden Tag daran.“
„Ich hab befürchtet, daß du zu oft dran denkst.“
„Sag nicht, befürchtet. Es ist nur ein Trost. Es spricht auf vielerlei Weise zu mir. Das unschuldige Ding, das nie auf Erden gelebt hat, ist wie ein Engel für mich, William.“
„Du bist zu Vater und mir wie ein Engel“, sagte Mr. William sanft. „Ich weiß das.“
„Wenn ich an all die Hoffnungen denke, die ich darein gesetzt habe, und an die vielen Male, da ich mir das kleine lächelnde Gesicht an meiner Brust, wo es niemals lag, und die lieben, zu mir aufschauenden Augen ausgemalt habe, die nie das Licht erblickten“, sagte Milly, „kann ich, glaube ich, ein größeres Mitgefühl für all die enttäuschten Hoffnungen aufbringen, in denen kein Unrecht liegt. Wenn ich ein schönes Kind in den Armen seiner zärtlichen Mutter sehe, liebe ich es um so mehr und denke, daß mein Kind so ähnlich gewesen wäre und mein Herz ebenso stolz und glücklich gemacht hätte.“
Redlaw hob den Kopf und blickte sie an.
„Das ganze Leben lang“, fuhr sie fort, „scheint es mir etwas zu sagen. Mein kleines Kind setzt sich für arme vernachlässigte Kinder ein, als ob es am Leben wäre und eine Stimme hätte, die ich kenne und mit der es zu mir sprechen könnte.
Wenn ich von Jugendlichen höre, die leiden und in Schande geraten sind, denke ich, daß vielleicht auch mein Kind hätte dahin kommen können und daß Gott es in seiner Gnade von mir genommen hat. Selbst ein alter Mensch mit grauem Haar, so wie das von Vater jetzt, sagt mir, daß es vielleicht auch alt geworden wäre, lange nachdem du und ich gestorben, und die Achtung und Liebe
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