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Sie mich?“ fragte der Chemiker.
„Ich wäre froh“, erwiderte der andere, „und das ist ein ungewohntes Wort für mich, wenn ich nein sagen könnte.“
Der Chemiker betrachtete den Mann, der in Selbsterniedrigung und Schande vor ihm stand, und hätte ihn noch länger in seinem wirkungslosen Bemühen um die Erleuchtung angesehen, wenn nicht Milly ihren früheren Platz an seiner Seite eingenommen und seinen aufmerksamen Blick auf ihr Gesicht gezogen hätte.
„Sehen Sie, wie tief er gesunken, wie verloren er ist!“ flüsterte sie und streckte den Arm zu ihm hin, ohne den Blick vom Gesicht des Chemikers zu wenden. „Wenn Sie sich an all das erinnern, was mit ihm in Verbindung steht, glauben Sie dann nicht, der Gedanke würde Ihr Mitleid erregen, daß einer, den Sie einst geliebt haben (lassen wir außer acht, wie lange das her ist und in welchem Vertrauen, das er verwirkt hat), so weit kommen sollte?“
„Ich hoffe es“, antwortete er. „Ich glaube, ja.“
Seine Blicke wanderten zu dem Mann, der dicht bei der Tür stand, kehrten aber rasch zu ihr zurück, die er gespannt ansah, als ob er sich anstrengte, aus jedem Ton ihrer Stimme und jedem Strahl ihrer Augen eine Lehre zu ziehen.
„Ich bin nicht gebildet, Sie aber sehr“, sagte Milly; „ich bin es nicht gewohnt zu denken, und Sie denken ständig. Darf ich Ihnen sagen, warum ich es für eine gute Sache halte, wenn wir uns an das Unrecht erinnern, das uns zugefügt wurde?“
„Ja.“
„Damit wir es verzeihen.“
„Großer Gott, verzeih mir“, sagte Redlaw und hob seine Augen empor, „daß ich deine eigene hohe Eigenschaft verworfen habe!“
„Und wenn eines Tages Ihr Erinnerungsvermögen wiederhergestellt sein sollte, was wir hoffen und erbitten wollen, wäre es dann nicht ein Segen für Sie, wenn Sie sich sofort ein Unrecht und dessen Vergebung ins Gedächtnis zurückrufen können?“
Er betrachtete den Mann an der Tür und heftete seinen aufmerksamen Blick wieder auf sie. Es kam ihm vor, als ob ein klarerer Lichtstrahl von ihrem strahlenden Gesicht ausginge, damit er seine Seele erleuchte.
„Er kann nicht in sein Heim zurück, das er verließ. Er trachtet nicht danach. Er weiß, daß er denen, die er so grausam vernachlässigt hat, Schande und Kummer bringen würde und daß es jetzt die beste Wiedergutmachung wäre, sie zu meiden. Ein wenig Geld, behutsam gegeben, würde ihn an einen fernen Ort bringen, wo er leben und nichts Unrechtes und solche Buße tun könnte, wie es in seinen Kräften steht, für das Unrecht, das er begangen hat. Für die unglückliche Dame, seine Frau, und für seinen Sohn wäre das die größte Wohltat, die ihnen ihr bester Freund erweisen könnte – von der sie auch nie zu erfahren brauchten. Und für ihn, dessen Ruf, Seele und Leib zerrüttet sind, kann es die Rettung bedeuten.“
Er nahm ihren Kopf zwischen seine Hände, küßte sie und sagte: „Es soll geschehen. Ich überlasse Ihnen, es jetzt und heimlich für mich zu tun und ihm zu sagen, daß ich ihm verzeihen würde, wenn ich nur wüßte, was.“
Als sie sich erhob und ihr strahlendes Gesicht dem heruntergekommenen Mann zuwandte und zu verstehen gab, daß ihre Fürsprache Erfolg hatte, kam er einen Schritt näher und sprach Redlaw an, ohne die Augen zu heben:
„Sie sind wie immer so großmütig“, sagte er, „daß Sie versuchen wollen, Ihren aufsteigenden Gedanken an Vergeltung bei dem, was Sie vor sich sehen, zu verbannen. Ich versuche nicht, diesen Gedanken von mir zu vertreiben, Redlaw. Glauben Sie mir, falls Sie können.“
Der Chemiker flehte Milly mit einer Geste an, näher zu ihm heranzukommen, und als er lauschte, schaute er in ihr Gesicht, als ob er darin den Schlüssel zu dem fände, was er hörte.
„Ich bin ein zu sehr heruntergekommenes Wrack, als daß ich Beteuerungen abgäbe. Ich erinnere mich zu gut an meinen Lebensweg, um irgend etwas vor Ihnen herauszustreichen. Aber von dem Tage an, an dem ich meinen ersten Schritt abwärts tat, als ich mich unaufrichtig gegen Sie verhielt, ging es in einer gewissen regelmäßigen und verdammten Folge mit mir bergab. So ist das.“
Redlaw, der sie dicht an seiner Seite hielt, wandte das Gesicht dem Sprecher zu, und Leid lag darin. Auch so etwas wie trauriges Erkennen.
„Ich hätte ein anderer Mensch werden, mein Leben hätte anders verlaufen können, wenn ich diesen ersten verhängnisvollen Schritt vermieden hätte. Ich weiß nicht, ob es so gewesen wäre. Ich behaupte nicht, daß es
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