Alles auf Anfang Marie - Roman
weitergeht, können wir ja mal sehen.«
»Damit bin ich doch schon zufrieden!«, jubelte sie. »Sie haben mir jedenfalls nicht direkt einen Korb gegeben. Kommen Sie doch einfach wieder vorbei, ganz unverbindlich, und lassen sich das Ganze durch den Kopf gehen. Können wir so verbleiben?«
»Können wir«, sagte ich.
Frau Göbel verpasste mir noch ein paar Einheiten ihrer enthusiastischen Lobgesänge und verabschiedete sich dann. Noch eine Weile danach fühlte ich mich, als wäreich in ein Fass mit Zuckerwatte gefallen. Dann drang langsam der reale Inhalt ihres Anliegens zu mir durch.
Frau Göbel schlug mir vor, mich dauerhaft für ihren Secondhandladen zu engagieren. Das bedeutete ja wohl, dort regelmäßig hinzufahren, sich wie bereits erlebt um das Sortieren und Präsentieren der Waren zu kümmern und vielleicht ab und zu die Kunden zu beraten. Ich ging mal davon aus, dass man das auf ehrenamtlicher Basis tat, aber andererseits auch nicht ständig eigenes Geld aufwenden musste, wie es mir augenblicklich mit der Familie Nowakowski passierte.
Ich setzte mich aufs Sofa und versuchte, mir das vorzustellen. Sofort drängten sich Pläne auf: den Bestand drastisch reduzieren, um die einzelnen Teile besser anbieten zu können. Spezielle Aktionen durchführen, ein bisschen mehr Werbung machen … Es waren keine zehn Minuten vergangen, und ich war Feuer und Flamme für dieses Projekt.
Dann fiel mein Blick auf den China-Bildband. Mit wenig Begeisterung knibbelte ich ihn aus der Folie, damit Henning sich nicht wieder aufregen musste, wenn er nach Hause kam, und blätterte sogar kurz durch den Inhalt. Viel Landschaft gab es da, ein Schwerpunkt lag auf dem Drei-Schluchten-Staudamm und den Orten, die man dort per Schiff anlaufen konnte. Es wurden Städte gezeigt mit ihrem Kontrast zwischen hochmodernen Wolkenkratzern und älteren Vierteln, in denen zahnlose alte Leute vor ihren Häuschen saßen. Das war sicher mal interessant zu sehen – auf einer Reise, bei der man auf dem Weg zwischen Hongkong und der Chinesischen Mauer dort vorbeikam. Aber zwei bis drei Jahre dort leben mit all den Einschränkungen, die schon allein durch die Sprachbarriere und die fremde Kultur entstanden? Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr fürchtete ich mich davor.
Wenn wir wenigstens noch kleine Kinder hätten, um die ich mich kümmern müsste und durch die es möglich wäre, Kontakte zu anderen Müttern in einer ähnlichen Situation aufzubauen! Dann wäre da eine konkrete Aufgabe, eine Herausforderung, ganz abgesehen davon, dass es sich in Lottas und Christophs Lebenslauf sicher nicht schlecht machen würde, wenn sie chinesische Sprachkenntnisse vorweisen könnten. Dafür hätte ich bestimmt einiges getan. Aber jetzt … da säße ich wohl die meiste Zeit allein zu Hause, beobachtet von Putzfrauen und Gärtnern, mit denen ich mich nicht mal unterhalten konnte, und wer weiß, wie meine Beziehung zu Henning aussähe, wenn er, wie in China üblich, noch mehr Stunden für seinen Job aufwenden müsste als bisher.
Bevor ich total depressiv wurde, rief ich Lotta an. Aber die hatte nicht viel Zeit für mich, weil sie kurz vor einer Prüfung stand und mal wieder fest davon überzeugt war, dass sie die nicht schaffen würde. »Und dabei wollte ich mich doch für dieses Auslandssemester bewerben«, jammerte sie.
Ich wurde hellhörig. Mein Kind wollte noch weiter weg von mir? »Auslandssemester? Wo denn?«
»Da gibt es mehrere Möglichkeiten. Ich würde am liebsten nach Brisbane gehen.«
»In Australien??« Noch entfernter ging’s wohl nicht.
»Ja klar. Dann gibt es noch Plätze in Durban und Hongkong und Mumbai. Ach, und Budapest natürlich, aber da will ja niemand hin.«
Ich hörte nur Hongkong. War das ein Lichtblick in einer ansonsten düsteren Lage? »Wie wäre Hongkong denn, Lotta? Würde dir das nicht auch ganz gut gefallen?«
»Keine Ahnung. Ich weiß nichts über Hongkong. Aber wieso schlägst du mir das vor? Ich hätte jetzt fest damitgerechnet, dass du mich überreden willst, mich mit Budapest anzufreunden.«
»Sprich doch mal mit Papa, der war erst neulich da.«
»In Hongkong? Da hat er vermutlich in einem Luxushotel gewohnt und ist überallhin mit einer Limousine abgeholt worden. Das ist nicht unbedingt der Standard für Studenten, Mama.«
»Mag sein, ich dachte nur …«
»Na ja, das ist ja jetzt sowieso hinfällig. Wenn ich diese Klausur versemmele, dann wird das eh nichts mit dem Ausland. Dann kann ich mir
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