Alles außer Sex: Zwischen Caipirinha und Franzbranntwein (German Edition)
gefiele. Sie antwortete erst freundlich, dann mit rollenden Plumplori-Augen, später schien sie genervt.
Als wir nach zwei Stunden alles durchexerziert und eingestellt hatten, nahm sie mich beiseite.
»Tati, kannst du mir erklären, woher deine Unsicherheit kommt? Du stehst jetzt seit über sieben Jahren auf Kabarettbühnen und weißt, wie es geht. Wovor hast du plötzlich Angst?«
»Wieso plötzlich? Ich hatte und habe immer Angst!«
»Das ist ja komisch. Ich habe das nie bemerkt. Ich dachte immer, du seist selbstsicher und hättest dein Leben komplett im Griff!«, wunderte sich meine Schwester.
Ich staunte selbst, dass ich diesen Eindruck vermittelt hatte, und versuchte zu erklären, woher meine Unsicherheit rührte.
»Wenn mich die Umstände nicht gezwungen hätten, allein auf die Bühne zu gehen, wäre ich niemals auf diese absurde Idee gekommen. Ich bin mir überhaupt nicht sicher, ob ich komisch bin, ob meine Stimme gut klingt und ob ich die Bretter, die die Welt bedeuten, überhaupt ausfülle!«
Alexandra war ehrlich überrascht und sah mich mitfühlend an.
»Ach Tati, die Show wird sicher gut!«, ermunterte sie mich, um im nächsten Moment sofort die Krankenschwester raushängen zu lassen. »Du solltest heute aber unbedingt früh ins Bett gehen und jede Aufregung vermeiden. Sonst bekommst du wieder Migräne oder Blasenentzündung. Pass auf dich auf, schon wegen unserer genetischen Vorbelastung durch Papa. Du weißt doch: Schlaganfall-Gefahr!«
Es hätte mich auch gewundert, wenn meine Schwester ausnahmsweise einen ausschließlich positiven Blick aufs Leben gehabt hätte.
Natürlich war ich – wie immer nach unseren schwesterlichen Gesprächen – nach ihrer Aufzählung wenig erfreulicher Unpässlichkeiten nicht wirklich entspannt, und das gute Gefühl bei der Probe wich einer inneren Unruhe, die sich zu einem Orkan im Magen-Darm-Trakt steigerte. Trotzdem nahm ich meine Krankenschwester in den Arm. Es war ja lieb, dass sie extra aus Berlin angereist war, um mich bei der Lichtregie zu unterstützen.
Nach drei Stunden war die Generalprobe beendet, und ich verabschiedete mich von Alexandra und Tino. Ich wusste, dass ich in etwas mehr als vierundzwanzig Stunden wieder hier sein würde und dann vor Publikum zeigen musste, dass ich mir Texte und Abläufe nicht nur merken, sondern diese auch spielen konnte.
Verdammt, ich schieb dich, ich schieb dich nicht
Durch das Fenster des Wartezimmers von Doktor Schulz beobachte ich ein braunes, knittriges Blatt, welches Richtung Erde segelt. Es scheint windstill zu sein, so gerade, wie es zu Boden fällt. Dort bleibt es neben vielen anderen braunen, alten Blättern liegen. Ich komme ins Grübeln. Biologen betrachten die Farbänderung der Blätter im Herbst, also den Abbau des Chlorophylls als Entgiftungsprozess des Baumes. Bei uns Menschen ist das wohl anders. Wenn wir alt und knittrig werden, Haare und Zähne verlieren, geht das nicht mit einer Entgiftung einher, sondern mit der Vergiftung der Gedanken, wenn wir uns im Spiegel sehen. Nur bei Doro scheint das anders zu sein. Sie kann über ihr Spiegelbild am Morgen nach einer durchzechten Nacht lachen. Ich habe immer das Gefühl, allen gefallen zu wollen. Auch wenn ich – rein rational – weiß, dass das unmöglich ist, wünsche ich es mir tief in meinem Inneren doch. Den Leuten im Publikum oder meinen Freunden; ich fühle mich besser, wenn ich mit ihnen und ihren Auffassungen im Einklang bin. Ich freue mich, wenn sie mit mir lachen, meine Arbeit wertschätzen und mir vertrauen. Will ich deshalb von Carsten geheiratet werden, als Beweis dafür, dass er mich kompromisslos liebt? Vielleicht. Egal, Hauptsache heiraten! Zuversichtlich greife ich nach den bunten Zeitschriften auf dem Ikea-Tisch neben mir und widme mich dem neuesten Promi-Tratsch, als sich die Tür zum Behandlungszimmer öffnet.
Meine Selbsterkenntnisse sind in dem Moment unbedeutend, in dem Carsten hohlwangig, blass und augenschattig das Wartezimmer betritt. Er muss gar nichts sagen, sein Anblick geht mir an die Nieren, und der Schock, der sich in seinen Augen widerspiegelt, lässt mich sofort alle Hoffnungen auf eine baldige Genesung begraben.
»Ich habe einen schweren doppelten Bandscheibenvorfall am sechsten und siebten Halswirbel. Wenn das Taubheitsgefühl im linken Arm nicht in der nächsten Woche weggeht, muss ich operiert werden«, sagt der angststarre Carsten mit monotoner Stimme.
Meine rechte Hirnhälfte erfasst das Dilemma ganzheitlich
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