Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
Vergnügen.)
In einem Kommentar zur kurzlebigen zapatistischen Revolution des Subcomandante Marcos in Chiapas – eine Revolution, die Carlos Fuentes die erste »postmoderne Revolution« nannte, was man nur gelten lassenkann im Sinne reiner Darstellung ohne Inhalt noch Bedeutung, inszeniert von einem Marketingprofi – wies Octavio Paz sehr richtig auf den ephemeren, präsentistischen Charakter der Aktionen (eher Scheinaktionen) heutiger Politiker hin: »Doch die Kultur des Spektakels ist grausam. Die Zuschauer haben kein Gedächtnis, und so haben sie auch weder Gewissensbisse noch ein echtes Gewissen. Sie stürzen sich auf jede Neuigkeit, welche auch immer es sei, Hauptsache, das Geschehen ist neu. Sie vergessen rasch, und ohne mit der Wimper zu zucken springen sie von Szenen des Todes und der Zerstörung im Golfkrieg zu den Kurven, Verrenkungen und Tremolos von Madonna und Michael Jackson. Den Comandantes und den Bischöfen wird dergleichen Schicksal nicht erspart bleiben; auch sie erwartet das namenlose, weltumspannende große Gähnen, und das ist die Apokalypse, das Jüngste Gericht der Gesellschaft des Spektakels.« 7
In der Sexualität hat unsere Zeit, dank zunehmender Aufhebung alter religiöser Vorurteile und Tabus, welche das Sexualleben in eiserne Verbote schlugen, beachtliche Veränderungen erlebt. In der westlichen Welt sind die emanzipatorischen Fortschritte auf diesem Gebiet unübersehbar: unverheiratete Paare werden akzeptiert, die machistische Diskriminierung von Frauen, von Schwulen und anderen sexuellen Minderheiten wurde zurückgedrängt, nach und nach werden diese Gruppen in eine Gesellschaft integriert, die, wenn auch manchmal zähneknirschend, das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung anzuerkennen beginnt. Die andere Seite der Medaille war jedoch wiederum eine Banalisierung, in diesem Fall die Banalisierung des Geschlechtsakts, der für viele, vor allem aus den jüngeren Generationen, zu einem Sport oder Zeitvertreib geworden ist, einer gemeinsamen Beschäftigung, die eine womöglich geringere Bedeutung hat als Gymnastik, Tanzen oder Fußball. Dem psychischen und emotionalen Gleichgewicht mag eine solche Frivolisierung von Sex zuträglich sein, allerdings sollte uns die Tatsache nachdenklich stimmen, dass in einer von sexueller Freiheit geprägten Zeit wie der unseren selbst in den offensten Gesellschaften die Sexualverbrechen nicht abgenommen haben, vielleicht sogar im Gegenteil. Sex light ist Sex ohne Liebe, ohne Fantasie, ist rein triebgesteuerter, animalischer Sex. Er stillt ein biologisches Bedürfnis, bereichert aber weder das Gefühlsleben noch die Sinne, noch vertieft er die Beziehung des Paars über das fleischliche Gemenge hinaus; statt den Mann oder die Frau aus der Einsamkeit zu befreien, entlässt er sie nach dem dringlichen, flüchtigen Akt der körperlichen Liebe wieder in diese Einsamkeit, und zurück bleibt ein Gefühl von Enttäuschung.
Die Erotik ist nicht mehr, sie verschwand zur gleichen Zeit wie die Kritik und die Hochkultur. Warum? Weil die Erotik, die den Geschlechtsakt zu einem Kunstwerk erhebt, einem Ritual, das die Literatur, die bildenden Kunst, die Musik und eine verfeinertes Empfinden mit Bildern von ästhetischer Virtuosität aufluden, eben die Verweigerung eines solchen einfachen, raschen und promisken Sex ist, zu dem die Freiheit, wie die jüngeren Generationen sie sich erobert haben, paradoxerweise geführt hat. Erotik bedeutet Aufhebung oder Missachtung der Norm, sie ist eine herausfordernde Haltung gegenüber den herrschenden Sitten, und ebendrum setzt sie auch Heimlichkeit und Verborgenheit voraus. Ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt und zum Allgemeingut gewendet, verkommt sie, verflüchtigt sich, vollbringt nicht mehr diese Entanimalisierung und geistige wie künstlerische Humanisierung der sexuellen Verrichtung. Sie wird zu Pornografie, einem schamlosen, billigen, lumpigen Abklatsch jener Erotik, die in der Vergangenheit einen so reichen Strom an Werken der Literatur und bildenden Kunst speiste, Künste, die, inspiriert von den Fantasien des Begehrens, denkwürdige ästhetische Schöpfungen hervorbrachten, dem politischen und moralischen Status quo trotzten, für das Recht des Menschen auf seine Lust kämpften und einem animalischen Trieb Würde verliehen, indem sie ihn seinerseits in ein Kunstwerk verwandelten.
Und der Journalismus? Auf welche Weise hat er die Kultur des Spektakels beeinflusst und diese ihn?
Die Grenze, die einmal den seriösen
Weitere Kostenlose Bücher