Alles ganz Isi - Islaendische Lebenskunst fuer Anfaenger und Fortgeschrittene
dass
das überhaupt nicht schlimm sei.) Schließlich sind die Isländer es gewohnt, sich spontan auf neue Situationen einzustellen,
sei es nun ein plötzlicher Sturm oder eine unfertige Hütte in der Einsamkeit.
Dann rücken sie nachts eben ein bisschen enger zusammen, die Nähe macht den meisten nichts aus. Einer der älteren Mitreisenden
sagt: Meine Eltern sind noch im Torfhaus aufgewachsen, da können wir es uns wohl zwei Nächte in einer gemütlichen Holzhütte
gut gehen lassen. Das Haus besteht, mal abgesehen von der Toilette, aus einem großen Raum. Überall verteilt, an Balken und
improvisierten Wäscheleinen, hängen jetzt die pitschnassen Klamotten zum Trocknen; vor einem kleinen Radiator stapeln sich
feuchte Wanderstiefel.
Während die einen das Nachtquartier bauen, helfen die anderen beim Kochen des Abendessens. Der Proviant und die Köchin kamen
über einen Umweg mit dem Hochlandjeep zur Hütte. Köchin Stina zaubert in einer riesigen Pfanne eine Tunfischpasta, zum Nachtisch
serviert sie Zwetschgengrütze mit Sahne, einige haben sich Bier und Wein mitgebracht.
Unter den Teilnehmern sind auch Borghildur und Vilhjálmur aus Reykjavík, deren Nachbarin das Gedicht über ihre Bettlaken schrieb.
Sie sind die Eltern von Reiseleiterin Ósk, ihre zweite Tochter Björg und deren Mann wandern ebenfalls mit. Die Tour ist also
eine Art Familienausflug, die anderen kennen sich teilweise auch untereinander oder waren schon mehrmals mit Ósk unterwegs.
Borghildur prüft ihren Blutzuckerspiegel, sie hatDiabetes, muss immer genau aufpassen und trägt eine Insulinpumpe bei sich.
Manche würden ihr vielleicht von so einer Tour abraten, »doch wenn ich durch die Natur wandere, geht es mir immer gut. Ich
fühle mich stark«, sagt die 6 8-Jährige beim Abendessen. Und war am Tag schneller als manche Dreißigjährige. »In der frischen Luft tanke ich Energie.«
Für eine andere Teilnehmerin ist die Wanderung eine Art »Kloster«. In dieser Zeit komme sie zur Ruhe, denke über ihr Leben
nach und was wirklich wichtig sei. »Wenn man hier draußen ist, braucht man nicht viel«, sagt auch Wanderexpertin Ósk. »Du
kannst dich mit Sand oder Moos waschen, Wasser aus den Gletscherflüssen trinken, die vitaminreichen Blaubeeren essen und dich
in den heißen Quellen aufwärmen.« Da sind die Alltagssorgen weit weg und bedrohliche Finanzkrisen ausgeblendet.
Ist die Natur nicht auch gefährlich? Sicher. Alle wissen, dass man im weiten Hochland nicht alleine wandern sollte. Die Isländer
wachsen mit der Erkenntnis auf, dass die Natur größer ist als sie und man es sich mit ihr besser nicht verscherzen sollte.
Sie hat das Sagen, die Menschen sind nur winzige, unbedeutende Gäste. Sich über die Natur oder das Wetter aufzuregen, kämen
den meisten Isländern daher nicht in den Sinn. Die Natur hat immer Recht.
Gegen 23.00 Uhr ist die Sonne untergegangen. Bei Kerzenlicht sitzt die Gruppe bis Mitternacht in der Hütte. Die Nacht ist kurz; von überall
erklingt ein Schnarchen, es klappert, weil jemand auf die Toilette geht, um 7.00 Uhr klingelt 15 Minuten lang ein Handywecker. Keiner beschwert sich oder stellt ihn aus. Ich nutze den ungewollten Weckruf und gehe ins Freie.
Den Tipp hatteunsere Wanderführerin mir am Vorabend ohnehin gegeben, als ich sie fragte, wie man so richtig in die Natur eintauchen könne.
Denn tagsüber, im Gespräch mit anderen, übersieht man manchmal die Landschaften. Von der Hütte aus habe ich einen weiten Blick
ins Tal. Barfuß laufe ich durch das weiche, regengetränkte Moos und setze mich an den Bergrand.
Lasse das Bild auf mich wirken: Von unten steigt schwefeliger Rauch aus einer heißen Quelle empor, das Wollgras weht im Wind
– früher wurde es als Docht für Öllampen genutzt –, das Plätschern der Flüsse ist zu hören, in der Ferne blökt ein Schaf. Ich werde von der Landschaft förmlich aufgesogen.
Je länger ich dort sitze, desto mehr höre, fühle und rieche ich. In diesem Moment ist die Natur überwältigend.
Schon zehn Minuten Panoramagucken reichen, um gestärkt und entspannt in den Tag zu starten. Das funktioniert überall – im
nächsten Wald, am Meer, im heimischen Garten oder beimBlick aus dem Fenster. Es ist wie Meditation. Um acht Uhr morgens singen Ósk, ihre Schwester Björg und die Mitwanderin Fanney
für die anderen ein isländisches Volkslied zum sanften Aufwecken. Ein wenig müde taumeln die anderen aus ihren
Weitere Kostenlose Bücher