Alles ganz Isi - Islaendische Lebenskunst fuer Anfaenger und Fortgeschrittene
einer Bucht am Rande Reykjavíks liegt. Im September erreicht
das Wasser hier gerade mal zehn Grad Celsius bei gleicher Außentemperatur.
Das Schwimmen im Nordatlantik ist eine beliebte Freizeitbeschäftigung geworden – und eine Mutprobe, denn sobald der Körper
im Wasser untergetaucht ist, zieht sich alles zusammen. Die Kälte saugt einen auf, alles wird taub, man erstarrt und schnappt
hektisch nach Luft. Es gibt nur noch einen Gedanken: atmen, irgendwie atmen! Nach den ersten Schocksekunden geht dies viel
leichter, und die Lungen sind gefüllt mit frischer Meerluft. Es ist ein starker Adrenalinstoß, ein Kick.
»Wenn ich aus dem Meer komme, ist mein Kopf wieder frei. Dann ist mir alles egal: die Finanzkrise, der Stress«, sagt Karl,
und sein Kumpel nickt. »Wer das übersteht, überlebt auch alles andere«, fügt Sigurður hinzu. Die beiden Isländer kommen seit
2008 zweimal in der Woche zum Strand, tanken hier Energie und Kraft. Je kälter, desto besser. Im Winter schwimmen sie manchmal
zwischen Eisschollen. Wenn im Sommer bei Nauthólsvík verbrauchtes Heizwasser in die Bucht geleitet wird, um so den Isländern
ein mediterranes Badegefühl bei zwanzigGrad Wassertemperatur zu vermitteln, weichen die beiden Schwimmer lieber auf die unbeheizte Bucht nahe des Leuchtturms Grótta
aus.
Sigurður hat die Krise hart getroffen, er verlor vor einigen Monaten seinen Job als Grafiker, und Karl weiß nicht, wie er
den Kredit für sein Haus abbezahlen soll. Er hatte wie so viele einen Kredit in fremder Währung aufgenommen, weil die Isländische
Krone damals so stark war. Als diese dann im Rahmen der Finanzkrise zeitweise um siebzig Prozent an Wert verlor, waren seine
Schulden ins Unermessliche gestiegen.
»Die ersten drei Monate nach dem Crash war ich deprimiert – und dann von der Krise gelangweilt«, sagt Karl. »Áfram, áfram«
(vorwärts, vorwärts), einfach immer weiter nach vorne schauen. Die beiden Männer werden schon bald eine Lösung finden, eine
neue Arbeit oder mehrere Jobs annehmen. Das Bad im Atlantik versinnbildlicht ihren Willen, sich selbst von der schwerstenKrise nicht unterkriegen zu lassen. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts ging es für die Isländer stetig bergauf. Der arme Fischer- und Bauernstaat wurde zu einem der wohlhabendsten
Staaten der Welt. 2008 lag Island beim »Human Development Index« der Vereinten Nationen auf Platz eins, und laut »Happy Planet
Index« waren die Isländer die glücklichsten Menschen Europas.
Eiskaltes Vergnügen im Meer
Doch dann kam der 6. Oktober 2008. Schon Monate davor fiel die Krone, aber kaum einer rechnete mit dem Kollaps des gesamten heimischen Bankwesens. »Wir alle
werden uns wohl bis an unser Lebensende daran erinnern, wo wir an diesem Tag waren«, sagt Halldór Guðmundsson. »Ich saß mit
meiner Familie vor dem Fernseher und hörte die Ansprache des damaligen Premierministers Geir H. Haarde: Als er sie mit ›Gott segne Island‹ beendete, war allen klar, dass die Regierung auch nicht weiterweiß.« Der 5 5-jährige Literaturwissenschaftler hat ein Jahr nach dem Finanzcrash das Buch ›Wir sind alle Isländer‹ veröffentlicht, in dem er Islands
Umgang mit der Krise beschreibt.
Was war passiert? Alles fing mit der Privatisierung der Banken an, die die konservative Regierung Anfang des neuen Jahrtausends
ermöglichte. Danach legten einige risikofreudige Isländer richtig los. Zwei ehemalige Bierbrauer zum Beispiel machten gute
Geschäfte in Russland und kauften mit dem verdienten und geliehenen Geld eine der isländischen Banken, später besaßen sie
noch eine Investmentbank, viele weitere Firmen und einen englischen Fußballclub. Andere kauften Häuser in Dänemark, spekulierten
mit Unsummen von Geldern, flogen mit Privatjets durch die Gegend, ließen Elton John auf ihrer Geburtstagsparty singen und
schafften so eine Elite, die es vorher niegab. In einem Land, in dem früher keine großen Hierarchien existierten, regierten plötzlich die Wirtschaftswikinger. Die internationalen
Märkte wurden auf die ferne Insel aufmerksam, Kleinanleger aus vielen Ländern investierten und erhofften sich hohe Renditen.
Die Isländer selbst nahmen die Kredite, die ihnen sehr leicht gewährt wurden, gerne an. Die Banken verlangten kaum Sicherheiten.
(Damals fragte man sich als Ausländer schon, wie das eigentlich funktionieren soll, beneidete sie ein wenig und war doch irritiert.)
Wer das
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