Alles Glück kommt nie
Alice hatte mir eines Abends davon erzählt. Dass es sie immer zum Heulen brachte. Und jetzt, Kinder, zieht eure Mäntel an, gleich kommen eure Mamas! Ich habe sie gefragt, ob sie nicht ›und Tanten‹ hinzufügen könnte, aber es hat nie so richtig geklappt.
Tja! Die Lehrer. Das sind meine Windmühlen. Können Sie sich vorstellen, dass Yacine in seiner Klasse das Schlusslicht ist? Er, der intelligenteste Junge, der neugierigste, dem ich je begegnet bin. Und nur, weil er seinen Stift nicht richtig halten kann. Ich nehme an, er hat nie schreiben gelernt. Dabei habe ich versucht, es ihm beizubringen, aber es ist nichts zu machen,er kann sich noch so sehr anstrengen, sein Gekritzel ist vollkommen unleserlich. Vor ein paar Monaten musste er eine Mappe über Pompeji erstellen. Er hat Stunden damit zugebracht, und die Arbeit war großartig. Alice hatte die Illustrationen übernommen, und wir hatten auf dem Küchentisch sogar ein paar Figürchen nachgebaut. Alle hatten mitgeholfen. Tja, er hat nur 10 von 20 Punkten bekommen, weil die Texte handgeschrieben sein sollten. Ich habe die Lehrerin aufgesucht, um ihr zu versichern, dass er alles eigenhändig getippt hatte, aber sie sagte nur, ›den anderen gegenüber‹ ...
Den anderen gegenüber.
Ich hasse diesen Ausdruck.
Zum Kotzen.
Wie sieht unser Leben denn seit neun Jahren den anderen gegenüber aus?
Ein Schiffbruch?
Ein heiterer Schiffbruch ...
Im Moment halte ich mich zurück, weil Nedra noch nachkommt, aber wenn ich mit der Grundschule durch bin, werde ich sie aufsuchen und ihr sagen: ›Madame Christèle P., Sie sind eine dumme Kuh.‹ Ja, das ist nicht nett von mir, aber ich werde es tun, ich habe den Dank dafür nämlich schon erhalten.
Ich habe, ich weiß nicht mehr wem, davon erzählt, dass ich diese hundsgemeine Person irgendwann beleidigen würde, und Samuel, der mit seinen Kameraden dabeistand, hat geseufzt: ›So etwas hätte meine wirkliche Mama nie getan.‹ Das war ein schöner Dank, mit ihm ist es in der letzten Zeit nämlich nicht so ganz einfach. Klassische Pubertätskrise, nehme ich an, in unserem Fall aber weitaus komplizierter. Noch nie haben ihm seine Eltern so sehr gefehlt. Er trägt nur noch die Kleider seines Vaters und seines Großvaters, und natürlich ist Tante Kate mit ihren Kuchen und Karotten als Lebensmodell mittlerweile abgemeldet. Zum Glück hat mich dieser liebevoll geäußerte Satz daran erinnert, dass der undankbare, gefräßige, faule und picklige Junge noch etwas Humor besitzt. Das sollmich aber nicht von meinem Vorhaben abhalten. Die knöpfe ich mir noch vor, die dumme Kuh!«
Lautes Lachen.
»Und wie sind Sie allesamt hier gelandet?«
»Das kommt noch. Geben Sie mir Ihr Glas.«
Charles war berauscht. Trunken von ihren Geschichten.
»Ich habe also getan, was ich konnte. Habe viele Fehler gemacht, aber die Kinder waren so lieb und geduldig. Wie ihre Mama. Ihre Mama, die mir so sehr fehlte. In Wahrheit habe ich nämlich nachts geweint. Wenn sie unglücklich waren, wünschte ich mir, sie wäre da, und wenn sie glücklich waren, war es noch schlimmer. Ich lebte in ihrer Wohnung, umgeben von ihren Dingen, ich benutzte ihre Haarbürste und trug ihre Pullover. Ich las ihre Bücher, ihre Notizen an der Kühlschranktür, und an einem Abend großer Not sogar ihre Liebesbriefe. Ich konnte mit niemandem über sie reden. My dearest friends standen auf, wenn ich zu Bett ging, und das Internet, Skype und all die genialen Satelliten, die unseren großen Planeten in ein kleines Boudoir verwandelt haben, gab es noch nicht.
Ich wollte, dass sie mir Winnies Stimme vorsprach. Und die von Tigger. Und auch von Rabbit. Ich wollte, dass sie mir von dort oben Zeichen gab, was sie von meinen spinnerten Initiativen hielt, und ob es schlimm war, dass wir in unserem Kummer kunterbunt durcheinandergewürfelt schliefen. Ich wollte, dass sie mir noch einmal sagte, dass dieser Typ es nicht wert war und dass ich gut daran getan hatte, ihn zurückzulassen. Ich wollte, dass sie mich in die Arme nahm und mir heiße Milch mit Orangenblüten kochte.
Ich wollte mit ihr telefonieren und ihr erzählen, wie schwer es war, die Kinder einer Schwester großzuziehen, die verschwunden war, ohne sich zu verabschieden, um ihnen nicht weh zu tun. Ich wollte alles zurückdrehen und ihr sagen: Lassdie beiden allein fahren und ihren Wein trinken, wir halten uns an den Sherry, und ich erzähle dir von meinen Papayas und die neuesten Bettgeschichten vom Campus.
Sie
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