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Alles Glück kommt nie

Titel: Alles Glück kommt nie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Erinnerungen. In einer Welt, die es schon lange nicht mehr gibt. Ich habe euch erzählt, wie wir unsere Stifte an der Lampe erwärmt haben, und ...«
    Die Jungs seufzten. Ja, das hast du uns schon tausendmal erzählt. Die Geschichte von Sänger Dingsda mit seinem Platz an der Sonne, von Meister Jojo und seinen zahmen Nachtigallen, vom abendlichen Bühne frei und diesem Russen, den man an den Händen gefesselt hatte und der den Flaschenhals anknabbern musste, um aus seiner Wodkaflasche zu trinken, und von der Wirtin im Échelle de Jacob , die einen Journalisten in den Kohlekeller gesperrt hatte, und von Milord Ganove und seiner Promenadenmischung Jeannot aus Flandern, die auf Tische kletterte und ihre Nase in die Champagnergläser der weiblichen Gäste steckte, bevor sie sie ihrem versoffenen Herrchen brachte, und vom Abend, an dem Barbara im Écluse auf die Bühne ging und du dich nachschminken musstest, weil du zu sehr geweint hattest, und ...
    Angesichts derartiger Treulosigkeit fing Nounou an zu schmollen, und man konnte ihn nur versöhnlich stimmen, indem man ihn aufforderte, Fréhel zu imitieren. Er ließ sich natürlich ein wenig bitten, dann blies er die Backen auf, stibitzte eine Zigarette von Anouk, klebte sie sich an die Lippe, stemmte die Hände in die Hüften und brüllte mit heiserer Stimme:
    He, Ihrrr Männerrr in Noooot!
    Kippt euch noch einen rrreeeiin!
    Heut Abend bin ich alleeeiin!
    Seit dem Morrrgen ist errr toooot!
    Daraufhin hielten die Jungs sich vor Lachen die Bäuche, und die Stones konnten einpacken. Sie waren zufrieden.
     
    »Und wenn ich nicht in meinen Erinnerungen bin, dann wohne ich bei euch, das seht ihr doch ...«
    Okay, aber warum bist du dann so lange weg, wenn wir dein Platz an der Sonne sind, und vor allem, wo bist du dann?
     
    Anouk forschte im Krankenhaus nach, fand die Akte seiner Mutter, hängte sich ans Telefon, erzählte der berühmten Schwester von ihrer Sorge, hörte sich die Antwort an, legte den Hörer auf und fiel vom Stuhl.
    Ihre Kolleginnen zogen sie wieder hoch, bestanden darauf, ihren Blutdruck zu messen, und steckten ihr schließlich ein Stück Zucker in den Mund, das sie zusammen mit einem Strahl Speichel wieder ausspuckte.
     
    Als die Jungs bei Schulschluss ihr Gesicht sahen, wussten sie, dass Nounou sie nie wieder abholen würde.
    Sie lud sie zu einer heißen Schokolade ein: »Bei der vielen Schminke und allem konnte man es nicht richtig sehen, aber ihr müsst wissen, dass er schon sehr alt war.«
    »Woran ist er gestorben?«, fragte Charles.
    »Das habe ich euch doch gesagt. An Altersschwäche.«
    »Wir werden ihn also nie mehr sehen?«
    »Warum sagt ihr das? Also ich, ich – werde ihn immer seh...«
     
    Es war ihr erstes Begräbnis, und die Jungs zögerten, bevor sie eine Handvoll Goldflitter und Konfetti auf den Sarg rieseln ließen: Wer war dieser Maurice Charpieu?
    Niemand kam auf sie zu, um sie zu begrüßen.
     
    Die Friedhofswege leerten sich. Anouk suchte nach ihren Händen, ging bis an den Rand des Grabs und flüsterte: »Und, Nounou. Hast du’s geschafft? Hast du all die wunderbaren Leute wiedergefunden, von denen du uns vorgeschwärmt hast? Ihr werdet da oben ein mächtiges Saufgelage veranstalten, stimmt’s? Und – und deine Pudelchen? Sag, sind die auch da?«
    Dann zogen die Kinder davon, und sie setzte sich zu ihm, wie sie es vor vielen Jahren schon einmal getan hatte.
    Warf ihm Kieselsteinchen auf den Kopf, nur um zu sehen, wie er noch einmal die Augen aufschlug und zum Himmel sah, und rauchte eine letzte Zigarette in seiner Gesellschaft.
    Danke, sagten die Rauchkringel. Danke.
     
    Schweigend kehrten sie nach Hause zurück, und während sie vermutlich alle drei darüber nachdachten, dass das Leben die beschissenste Kabarettnummer der Welt war, beugte sich Alexis vor, um den Ton lauter zu stellen.
    Ferré predigte ihnen, wie super alles sei, c’est extra , und einverstanden – aber nur, weil er es war und weil Nounou ihn als Junge gekannt hatte. Sie beschlossen, ihm in den drei Minuten, die er für sein verfluchtes Chanson brauchte, zu glauben. Dann schaltete Alexis das Radio aus, redete von etwas anderem und musste die sechste Klasse wiederholen.
     
    Eines Abends fasste sich Anouk, der das schon lange durch den Kopf ging, ein Herz:
    »Sag mal, Herzchen ...«
    »Ja?«
    »Warum weichst du immer aus, wenn wir über Nounou sprechen? Warum hast du nicht ein einziges Mal geweint? Er war doch ein ganz wichtiger Mensch in deinem Leben,

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