Alles Glück kommt nie
das Buch noch einmal zu lesen. Damit wenigstens ein Teil von ihm trotz der sich zwangsläufig einstellenden Desillusionierung intakt blieb.
Nein, er würde weder Baumeister Wilhelms Qualen in dem trostlosen Steinbruch noch die Klosterregel, der sich die Laienbrüder zu unterwerfen hatten, noch den schrecklichen Tod des Maulesels mit dem aufgeschlitzten Bauch unter der Wagendeichsel noch einmal durchleben, aber die ersten Sätze hatte er nie vergessen, und es kam immer noch vor, dass er sie sich leise aufsagte, um wieder die körnige Struktur des ockerfarbenen Steins zu spüren, den Stiel der Werkzeuge und die ganze Schwärmerei seiner fünfzehn Jahre:
Sonntag, Oculi 1161
Unsere Kleider sind durchnässt, Frost hat das derbe Gewebe unserer Kutten völlig steif werden lassen. Unsere Bärte sind starr und unsere Glieder schwer. Schmutz bedeckt unsere Hände, Füße und Gesichter. Der scharfe Wind hat uns eingestaubt. So wandern wir seit Wochen...
»... und die steifen Kleider auf unseren abgezehrten Körpern werfen keine Falten mehr«, sprach er leise vor sich hin, nachdem er die Scheibe heruntergelassen hatte, um sich zu lüften.
Sich zu lüften. Was ist das denn für ein Wort? He, Charles. Wolltest du nicht eher sagen »um zu atmen«?
Ja, lächelte er und zog an seiner Zigarette, genau. Ihnen kann man nichts vormachen, sehe ich.
Um diese Zeit sollte er sich eigentlich in Onkel Dagoberts Anwesen langweilen und das Gesäusel der Verkäufer über reinforced concrete über sich ergehen lassen, stattdessen kniff er die Augen zusammen, um die Ausfahrt nicht zu verpassen.
Schöpfte frische Luft, schüttelte den schweren Stoff seiner Kutte ab und fuhr dem Licht entgegen.
Seinen ramponierten Wünschen, seiner Naivität, seinen jugendlichen Entwürfen oder dem wenigen, was in ihm noch pochte.
Ihn schauderte. Er wollte gar nicht wissen, ob vor Freude, Kälte oder Aufregung, er kurbelte das Fenster wieder hoch und begab sich auf die Suche nach einem Tresen, an dem er einen echten Kaffee kriegen konnte, wo es nach echtem, kaltem Rauch roch, mit echt verrußten Wänden, echten Pferdewetten, echten Rüffeln, echten Schnapsbrüdern und einem echten Wirt mit echt schlechter Laune unter einem echten Schnurrbart.
*
Die imposante Bauweise der Kirche, deren Dimensionen mit denen der Kathedrale von Soissons vergleichbar sind, geht aus einem Kompromiss zwischen der Pracht der königlichen Abtei und der Strenge der Zisterzienser hervor.
Charles hob nachdenklich den Kopf und – sah nichts.
Kurz nach der Revolution , fuhr das Schild fort, ließ der Mar quis von Travalet, der die Abtei bereits in eine Spinnerei verwandelt hatte, sie jedoch komplett abtragen, um mit den Steinen Unterkünfte für seine Arbeiter zu bauen.
Ach?
Und warum hatte man so einem nicht den Kopf abgehackt?
Heute gibt es in der Abtei Royaumont also keine Mönche mehr.
Aber artists in residence .
Und ein Café.
Gut.
Zum Glück gab es den Kreuzgang.
Er durchschritt ihn, die Hände auf dem Rücken verschränkt, lehnte sich an eine Säule und besah sich eingehend die Nester, die im Kreuzgewölbe hingen.
Das hier waren echte Baukünstler ...
Der Ort und der Moment schienen ihm absolut perfekt für einen letzten Vorhang.
Frau Schwalbe ist ’ne Schwätzerin, sie schwatzt die ganze Nacht. Nounou hatte keine Gelegenheit mehr bekommen, nach ihrer Erstkommunion den schönen Anzug noch einmal anzuziehen.
Eines Tages blieb er weg. Auch am nächsten Tag. Ebenso in der Woche darauf.
Anouk beruhigte sie: Er hatte bestimmt andere Pläne. Dachte nach: Vielleicht ist er zu seiner Familie gefahren, er hat mir von einer Schwester in der Normandie erzählt, glaube ich. Nahm Vernunft an: Und außerdem, wenn er ein Problem hätte, wüsste ich davon, und – schwieg.
Schwieg und stand in der Nacht wieder auf, um den erstbesten Flaschenhals zu fragen, ob er nicht zufällig etwas von ihm gehört hatte.
Die Situation war beunruhigend. Sie wussten zwar alles über ihren Nounou mit den falschen Wimpern, seine Auftritte im Bobino , im Tête de l’Art , im Alhambra und so weiter, aber sie wussten weder seinen Familiennamen noch wo er wohnte. Sie hatten ihn zwar danach gefragt, aber seine Ringe waren über die Dächer von Paris ausgewichen: »Irgendwo dort drüben.« Sie hatten nicht insistiert. Seine Hand war schon wieder herabgesunken, und »dort drüben« erschien ihnen sehr weit weg.
»Soll ich euch sagen, wo ich wohne? Ich wohne in meinen
Weitere Kostenlose Bücher