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Alles Glück kommt nie

Titel: Alles Glück kommt nie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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oder?«
    Er konzentrierte sich auf seine Makkaroni, musste aber wegen der Käsefäden den Kopf heben und folglich ihrem Blickbegegnen, und antwortete: »Jedes Mal, wenn ich meinen Trompetenkasten aufmache, habe ich seinen Geruch in der Nase. Du weißt schon, diesen Geruch nach altem ... und –«
    »Und?«
    »Wenn ich spiele, spiele ich für ihn und –«
    »Und?«
    »Wenn man mir sagt, dass ich gut spiele, ich glaube, dann liegt es daran, dass ich eigentlich weine –«
     
    Wenn sie gedurft hätte, hätte sie ihn in diesem besonderen Moment ihres Lebens in die Arme geschlossen. Aber sie durfte nicht. Er wollte es nicht mehr.
    »Dann, hm, bist du also traurig?«
    »Nein, nein! Im Gegenteil! Ich bin quietschvergnügt!«
    Statt zu antworten, lächelte sie ihm zu. Ein kleines Lächeln mit zwei Armen, die ihn ganz fest drückten.
     
    Charles sah auf die Uhr, kehrte um, warf einen Blick auf eine winzige Grotte im Stil von Lourdes ( Parcours Saint-Louis, verkündete der Pfeil. So ein Schwachsinn) und wartete bis zum Parkplatz, bevor er sein Dies Irae herauskotzte.
     
    »Ja. Aber wie du siehst, hat er sie am Ende ebenfalls um den Finger gewickelt«, erklang Anouks Stimme.
    Nein, er hatte nicht versucht, ihr in diesem Punkt zu widersprechen.
    Seine Mutter. Seine Mutter hatte sich rasch wichtigeren Aufgaben zugewandt. Sie hielt das Haus, den Haushalt, ihre soziale Stellung, ihre Rabatten und den ganzen Rest in Schuss. Und dann kam de Gaulle zurück. Und sie entspannte sich.
    Nicht in dem Punkt allerdings: »Anouk ...«
    »Charles ...«
    »Heute kannst du es mir ja sagen –«
    »Was denn?«
    »Woran er gestorben ist.« Stille.
     
    »An Altersschwäche, hast du uns damals erzählt, aber das war gelogen. Stimmt’s? Das war gelogen?«
    »Ja.«
    »Hat er sich umgebracht?«
    »Nein.«
    Stille.
    »Willst du nicht?«
    »Manchmal sind Lügen besser, weißt du. Vor allem bei ihm. Der uns so viel zum Träumen gebracht hat. Mit all seinen Zaubertricks –«
    »Wurde er überfahren?«
    »Umgebracht.«
    »...«
    »Ich hab’s gewusst«, verwünschte sie sich, »warum höre ich auch ständig auf dich?«
    Sie drehte sich um und verlangte nach der Rechnung.
     
    »Weißt du, Charles, du hast nur einen Fehler, aber mein Gott, es ist so traurig. Du bist zu intelligent. Dabei gibt es im Leben Dinge, die in keine Gebrauchsanweisung passen. Glaub mir, als ich vorhin kam und all die Rechenaufgaben sah, die du dir aufgehalst hast, als ich dich umarmt habe, hast du mir leid getan. Ich fand, dass du für dein Alter wirklich zu viel Zeit damit verbringst, dir die Welt zurechtzubiegen. Ich weiß, ich weiß, du wirst sagen, das ist die Schule und so. Aber trotzdem. Wenn du an die letzten Stunden der wunderbarsten Gluckenmutter der Welt denkst, stellst du dir ab heute keinen älteren Herrn mehr vor, der in seiner Stola inmitten seiner Erinnerungen entschlafen ist, nein, und das hast du ganz allein dir zuzuschreiben, Herzchen, du wirst zu deinem Taschenrechner zurückkehren und dich damit einschließen und wirst dich nicht mehr konzentrieren können, weil alles, was du zwischen deinen verfluchtenKlammern voller x und y sehen wirst, ein alter Mann ist, der nackt mit durchschnittener Kehle in einem Pissoir gefunden wurde ...«
    »...«
    »Ohne Gebiss, ohne Ringe, ohne Papiere und ohne ... Ein alter Mann, der fast drei Wochen lang im Leichenschauhaus warten musste, bis ihn eine Frau, die sich seiner schämte, dort herausholte, indem sie, gottlob zum letzten Mal in ihrem Leben, angeben musste, dass sie blutsverwandt seien, denn ja, dieses geöffnete Wrack hier, das war ihr jüngerer Bruder ...«
     
    Dann hatte sie mich bis zur Schule begleitet, sich umgedreht und war mir um den Hals gefallen.
    Nicht mich versuchte sie zu ersticken, sondern die Erinnerung an Nounou, und wenn mir die nächste Unterrichtsstunde noch komplizierter vorkam, als sie es mir mit zusammengebissenen Zähnen prophezeit hatte, dann war nicht der alte Schelm schuld – der letztlich auf der Bühne gestorben war, nein, sondern ich selbst, denn auch wenn ich mich verzweifelt bemühte, mir einen Zettel vorzustellen, der an einem kalten Zeh hing, hatte ich nicht verhindern können, dass sie meine Verwirrung durch den Stoff meiner Hose zu spüren bekam und ... Mann, was für ein geschraubter Satz! Ich hatte einen Steifen bekommen und schämte mich, basta.
    Jetzt wurde unser Gehirn schon seit zwei Stunden mit Infinitesimalrechnungen bombardiert, da soll sie mir nicht sagen, dass ich

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