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Alles Glück kommt nie

Titel: Alles Glück kommt nie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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gerechtfertigt hätte. Die Grußformel war länger als ihre Verachtung.
    Er legte seiner Assistentin den Brief auf den Tisch. »Zu den Akten damit.«
    »Soll ich für die anderen eine Kopie machen?«
    »Wenn Sie es über sich bringen, Barbara, wenn Sie es über sich bringen. Ich muss zugeben, dass ich persönlich ...«
    Hunderte, Tausende Arbeitsstunden hatten sich soeben in Rauch aufgelöst. Und unter der Asche Investitionen, Verluste, Firmengelder, Banken, Finanzierungsmodelle, bevorstehende Verhandlungen, neu zu berechnende Zinssätze, Energie.
    Energie, die er nicht mehr hatte.
    Er war schon weitergegangen, als sie noch fragte:
    »Und was mache ich mit dieser Dame?«
    »Wie bitte?«
    »Béram...«
    »Worum geht’s?«
    »Ich habe es nicht ganz verstanden. Etwas Persönliches ...« Charles verscheuchte das letzte Wort mit einer gereizten Handbewegung.
    »Das Gleiche. Zu den Akten.«
     
    Er ging nicht zum Mittagessen nach draußen.
    Wenn ein Projekt ins Wasser gefallen war, musste sofort ein neues her. Die einzige Gewissheit in einem Beruf, der alles andere über den Haufen geworfen hatte. Egal was für eins, egal welches. Ein Tempel, ein Zoo, sein eigener Käfig, wenn sonst nichts am Horizont zu erkennen war, irgendeine Idee, eine Bleistiftzeichnung, und man war gerettet.
     
    So weit war er jetzt also. Vertieft in die Lektüre eines extrem komplizierten Leistungsverzeichnisses, den Kopf in die Hände gestützt, als wollte er seine Gehirnschalen zusammenschweißen,die überall Risse bekamen, machte er sich Notizen und biss die Zähne zusammen, als seine Assistentin wieder im Türrahmen erschien, sich räusperte. (Er hatte den Hörer daneben gelegt.)
    »Sie ist es noch mal ...«
    »Die Borgen?«
    »Nein, dieser persönliche Anruf von heute Morgen ... Was soll ich ihr sagen?«
    Seufzer.
    »Es geht um eine Frau, die Sie gut gekannt haben.«
    Höflichkeit der Verzweiflung, Charles war ihr wirklich ein Lächeln schuldig. »Oh, oh! Ich habe so viele gekannt! Geben Sie mir noch ein paar Anhaltspunkte: Ihre Stimme? Rauh?«
    Aber Barbara hatte nicht gelächelt. »Eine gewisse Anouk, glaube ich.«

12
    Sie waren das mit der Farbe auf ihrem Grabstein, stimmt’s?«
    »Wie bitte? Ja, aber was – wer ist am Apparat?«
    »Ich hab’s gewusst. Hier ist Sylvie, Charles. Erinnerst du dich an mich? Ich habe mit ihr im Krankenhaus gearbeitet. Ich war bei eurer Kommunion dabei und –«
    »Sylvie. Natürlich, Sylvie.«
    »Ich will dich nicht lange stören, ich wollte nur ...« Ihre Stimme klang verrostet.
    »... Danke sagen.«
    Charles schloss die Augen, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, vergaß seinen Schmerz, zwickte sich in die Nase, versuchte sich erneut zu beherrschen, um nicht loszuschreien.
    Hör auf. Hör sofort damit auf. Es ist nichts. Es sind ihre Gefühle. Es sind diese Medikamente, die du nicht verträgst, die dir keine Erleichterung verschaffen, diese perfekten Pläne, die in eurem Archiv schon zu viel Platz einnehmen. Reiß dich in Gottes Namen zusammen.
    »Bist du noch dran?«
    »Sylvie ...«
    »Ja?«
    »Wo...«, stammelte er, »woran ist sie gestorben?«
    »...«
    »Hallo?«
    »Hat Alexis es dir nicht gesagt?«
    »Nein.«
    »Sie hat sich umgebracht.«
    »...«
    »Charles?«
     
    »Wo wohnen Sie? Ich würde Sie gern sehen.«
    »Du kannst mich ruhig duzen, Charles. Früher hast du mich geduzt, weißt du noch? Außerdem habe ich noch was für–«
    »Jetzt? Heute Abend? Wann?«
     
    Am nächsten Morgen um zehn. Er ließ sie die Adresse noch einmal wiederholen und stürzte sich sogleich wieder in die Arbeit.
    Angststarre. Zustand der Angststarre. Anouk hatte ihm dieses Wort beigebracht. Wenn der Schmerz so groß ist, dass das Gehirn für eine gewisse Zeit seine Arbeit verweigert.
    Diese Dumpfheit zwischen Drama und Schrei.
     
    »Das ist es also, was mit den Enten von Monsieur Canut passiert, wenn er ihnen den Hals abschneidet und sie wie die Irren weiterrennen?«
    »Nein«, antwortete sie und verdrehte die Augen, »das ist nur ein ziemlich geschmackloser Witz, den man sich ausgedacht hat, um kleinen Parisern Angst einzujagen. Und außerdem total idiotisch. – Aber wir haben doch vor gar nichts Angst, stimmt’s?«
    Wo hatte dieses Gespräch stattgefunden? Im Auto bestimmt. Im Auto erzählten sie sich den größten Blödsinn.
     
    Wie alle Kinder waren wir schrecklich sadistisch. Unter dem Vorwand, den Stoff aus dem Biologieunterricht zu wiederholen, versuchten wir, sie in die horrormäßigsten Ecken ihres

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