Alles Glück kommt nie
gut. Wie du weißt, habe ich dieses Wochenende meine Koreanerinnen an der Backe. (Das wusste er nicht.) Und wo ich dich gerade dran habe, denkst du noch an Mathilde? Du hast ihr versprochen, sie am Montag zum Flughafen zu bringen. Ich glaube, am frühen Nachmittag, die genaue Zeit gebe ich dir noch durch (die Wartesäle von Air France, seine zweite Heimat). Und wegen Taschengeld. Hast du noch englische Pfund?«
Nein, nein. Er hatte es nicht vergessen. Weder sein großes Mädchen noch Howard.
Charles vergaß nie etwas. Das war im Übrigen seine Achillesferse. Was hatte Anouk noch gesagt? Er sei intelligent? Mitnichten. So oft schon hatte er Gelegenheit gehabt, mit außergewöhnlichen Köpfen zusammenzuarbeiten, und gab sich diesbezüglich keinerlei Illusionen hin. Wenn er es in all diesen Jahren verstanden hatte, die anderen zu täuschen und hinters Licht zu führen, dann lag es nur an seinem Gedächtnis. Was er einmal gelesen, gesehen oder gehört hatte, prägte er sich ein.
Heute war er ziemlich beladen, auf Englisch loaded , manipuliert,Teil eines abgekarteten Spiels. Und diese schrecklichen Migräneattacken, an denen er zurzeit nicht mehr litt, begraben, wie sie waren, unter einer schwereren Schicht Schmerzen, hatten nichts Körperliches. Ein simples EDV-Problem. Alexis’ Brief und der Erdrutsch, den er ausgelöst hatte, seine Kindheit, seine Erinnerungen, Anouk, das wenige, was wir von ihr wissen, und all das, was er uns nicht erzählt hat, was er lieber für sich behielt, um sie weiterhin zu schützen und weil er ziemlich prüde ist, dieser Überschwang an unvorhergesehenen Emotionen hatte seine Erinnerung in gewisser Weise überfrachtet. Chemie, Moleküle, sogar eine CT? Nur zu, nur zu, das alles hätte keinerlei Auswirkungen. Es war an ihm, seine Dateien wiederherzustellen.
Das war genau der Grund, warum er vor einer Mautstelle das Tempo drosselte.
»Wo bist du?«, fragte Laurence.
»Bei Saint-Arnoult – Autobahn –«
»Was ist da? Eine neue Baustelle?«
»Ja«, log er.
Es war die Wahrheit.
Doch je weiter der Horizont wurde, umso abwegiger kam ihm dieser Ausflug vor. Er hatte die linke Spur verlassen und dachte im Windschatten eines riesigen Lasters nach.
Instinktiv berührte er bei jedem Schild, das eine Ausfahrt anzeigte, den Blinkerhebel.
Es lag einzig und allein an seinem Gedächtnis, versicherte er. Tz tz. Welch falsche Bescheidenheit, eine bequeme Sonnenblende, wenn man Kurs gen Süden nahm. Reden wir ein wenig über ihn und geben dem gebrannten Kind, was ihm zusteht.
Charles war zufällig Architekt geworden, aus Ehrerbietung, aus Ergebenheit und weil er außergewöhnlich gut zeichnen konnte. Natürlich prägte er sich ein, was er sah, was er verstand, aber er lebte es auch. Ganz einfach. Ganz natürlich. Auf dem Papier, im Raum und vor jedem Publikum. Auch die skeptischsten Blicke konnte er am Ende überzeugen. Aber Talent allein genügt nicht. Was er besonders gut zu Papier brachte, waren seine Gedankengänge, sein Scharfblick.
Er war ruhig, geduldig, und allein die Chance, neben ihm denken zu dürfen, war ein Privileg. Mehr als das, ein Spiel. Aus Zeitmangel hatte er stets die Professorenstellen, die man ihm angeboten hatte, ausgeschlagen, aber im Büro umgab er sich gern mit jungen Leuten. In diesem Jahr mit Marc und Pauline, früher mit dem genialen Giuseppe oder auch dem Sohn seines Freunds O’Brien. Alle Studenten wurden in den großzügigen Räumlichkeiten in der Rue La Fayette mit offenen Armen empfangen.
Er war streng zu ihnen und bürdete ihnen einiges an Arbeit auf, aber er behandelte sie wie seinesgleichen. Sie sind jünger, also frischer als ich, warf er ihnen an den Kopf, dann zeigen Sie es auch. Was würden Sie bei dem Projekt hier machen?
Er nahm sich Zeit, hörte ihnen zu und torpedierte unsinnige Vorschläge, ohne die jungen Leute zu demütigen. Ermutigte sie, so viel wie möglich nachzuahmen, zu entwerfen, und sei es noch so schlecht, zu reisen, zu lesen, Musik zu hören, sich musikalische Grundlagen anzueignen, Museen zu besichtigen, Kirchen, Gärten und ...
War betrübt über ihre extremen Wissenslücken und erschrakbeim Blick auf die Uhr. Wie? Haben Sie keinen Hunger? Natürlich hatten sie Hunger. Na und? Warum lassen Sie mich hier wie einen Bekloppten dozieren? Hat man Sie nicht darauf vorbereitet, dass die Zeit der alten Gäule an der Kunsthochschule vorbei ist? Los! Als Entschuldigung, alle Mann ins Terminus Nord . Ein Teller Meeresfrüchte für die, die
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