Alles hat seine Zeit
Arbeit, wie wenn man eine durchgebrannte Glühbirne auswechselt, sie erfordert wenig Aufmerksamkeit. Ich betrachtete die Pistole als eine Zierde der Uniform und reinigte sie regelmäßig in der Gewissheit, dass sie zu nichts nütze sein würde. Ich war in diesen Krieg geraten, überzeugt, dass ich von der Pistole keinen Gebrauch machen würde.
Wozu dient sie? So viele andere Waffen sind mächtiger, geeigneter, einen Feind aufzuhalten, der keine hat und den man erst am nächsten Tag zerschmettert unter einem Busch findet. Wer ist es gewesen? Ich nicht. Ich habe nach der anderen Seite geschossen.
Leb wohl, Frau. Die Kehle schnürte sich mir zu, aber ich stand nicht da und weinte; es war ein langer Weg zum Hochland hinauf, und ich lief rasch. Nach einer Stunde fand ich den Pfad wieder, der zur Brücke führte: Ich ging ein Stück darauf zurück, als ich merkte, dass ich gar nicht hinunterzugehen brauchte, ich hatte nämlich die Abkürzung wiedergefunden. Wieso nur hatte ich sie am Tag vorher nicht gesehen? Einfach deshalb, weil die Abzweigung unter einem Kadaver verborgen war. Ich nahm also die Abkürzung, und nach einer halben Stunde überquerte ich die Straße bei einer Kurve. Ich setzte mich eine Weile an den Rand, um mich etwas auszuruhen, und rauchte eine Zigarette, dann streckte ich mich am Boden aus.
Als ich das Geräusch eines herauffahrenden Lastwagens hörte, nahm ich all meine Kraft zusammen, um aufzustehen und dem Soldaten zu winken, dass er anhalte. Der Soldat fuhr nur langsamer, denn er war im Aufwärtsfahren und in der Kurve. Trotzdem erreichte ich den Lastwagen und sprang aufs Trittbrett.
ZWEITES KAPITEL
Der Zahn
1
Vier Tage danach ruhte ich in einem Zelt des Etappenkommandos von A. Ich musste mich auf die Rückkehr vorbereiten und hatte überhaupt keine Lust dazu; eine geradezu angenehme Gefühllosigkeit lähmte mir die Glieder; allerdings war es durchaus nicht so seltsam, dass ich noch nicht wieder zu Kräften gekommen war, denn der Zahn ließ mir keine Ruhe. Es gab keinen Zahnarzt in A., und mein Aufenthalt war nutzlos gewesen.«Vier vergeudete Tage», dachte ich. Der Zahn war also schuld daran, dass ich nicht imstande gewesen war, mich zu rühren; ich hatte zwar die Geräusche dieses Städtchens bis zu meinem Feldbett gehört, doch jetzt musste ich fortgehen, ins Lager zurückkehren, oder ich würde meine Verspätung nicht rechtfertigen können. Vielleicht nahm mir gerade dieser Gedanke jegliche Kraft.
Auf dem Feldbett neben dem meinen lag ein junger Mann und tat, als lese er, in Wirklichkeit
aber spähte er über seine Brille hinweg verstohlen zu mir herüber. Der junge Mann hatte ein rundes Gesicht, und sein kleiner Schnurrbart verlieh seinen Lippen einen merkwürdig ironischen Ausdruck. Er hatte noch seine Uniformjacke an, hatte den Tropenhelm nicht abgenommen und nicht die Stiefel ausgezogen. Zwar hielt er den Blick starr auf die Buchseite gerichtet, aber seine Augen waren darauf bedacht, nicht die geringste meiner Bewegungen zu übersehen. Er rauchte eine Zigarre. Diese Zigarre in seinem kindlichen Gesicht erinnerte mich an die Kleckse, die alle Kinder den Gesichtern in ihren Schulbüchern anmalen. Ebendieser Zigarrenrauch war es gewesen, der mich aufgeweckt hatte, weil mir davon übel geworden war.«Bitte», sagte ich,«die Zigarre…»
Der junge Mann - er war Leutnant und noch dazu von meiner Division - warf die Zigarre aus dem Zelt, indem er sie mit den beiden Fingern, zwischen denen er sie hielt, wegschnippte. Mit dieser Gebärde wollte er mir seinen Ärger zeigen. Er begann wieder zu lesen, ohne mich weiterer Beachtung zu würdigen, während ich ihn durch die halbgeschlossenen Lider beobachtete. Einen Augenblick später hatte er bereits eine neue Zigarre aus der Brusttasche gezogen und sie zwischen die Lippen gesteckt; er zündete sie jedoch nicht an, sondern zerbiss die Spitze mit
den Zähnen. Jetzt las er wirklich und wendete die Seiten um. Die Übelkeit saß mir wie ein Knoten in der Kehle, und der Zahn fing an, mir weh zu tun. Es waren plötzliche Stiche, die wie Flammen ins Gehirn schossen. Für eine Weile verschwand das Bild des schweigsamen Lesers hinter einem Schleier von Tränen. Ich hätte am liebsten geschrien.«Entschuldige», sagte ich stattdessen, nachdem der Stich nachgelassen hatte.
Der Leutnant lächelte. Mein verstörtes Gesicht hielt ihn davon ab, jene Förmlichkeiten zu wahren, die sonst unter Offizieren, welche in einem Zelt in der Etappe zusammentreffen,
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