Alles Ist Ewig
Leah.
Das dürre Mädchen schüttelte den Kopf. »Du bist die Einzige, die das beurteilen kann. Aber wenn ich dir nicht vertrauen würde, wäre ich nicht hier.«
Haven hielt Leah Iains Telefon hin. »Kannst du das bei dir behalten? Vielleicht versucht Iain ja anzurufen, während ich weg bin.«
»Willst du es nicht selbst mitnehmen?«
»Wenn Iain Hilfe braucht, kann ich sowieso nichts für ihn tun. Du musst dich um ihn kümmern. Wenn ihm irgendwas passiert, überlebe ich das nicht.«
»Und was ist mit dir?«, fragte Leah. »Was ist, wenn du Hilfe brauchst?«
»Wenn ich Hilfe brauche, könnt ihr sowieso nichts machen.«
Havens Taxi hielt vor den großen gotischen Torbögen am Eingang des Green-Wood-Friedhofs. Jenseits der braunen Spitzen erstreckte sich eine andere Welt – ein stilles, reines weißes Reich. Der Schnee, der sich in den Straßen der Stadt längst in unansehnlichen Matsch verwandelt hatte, war innerhalb der Friedhofsmauern noch nahezu unberührt. Nur einige der schmalen Pfade waren geräumt worden, und sie wanden sich wie schwarze Bänder zwischen den Gräbern hindurch. Der Anblick ließ Haven an den Tag denken, an dem Beaus Mutter beerdigt worden war. Auch damals hatte Schnee gelegen. Haven hatte Beaus Hand gehalten, als sie mit ihm am Rand des Lochs gestanden hatte, das in den gefrorenen Boden gegraben worden war. Dort, an diesem Grab, hatte Haven einen stillen Eid geleistet – sie hatte sich geschworen, Beau all das zu geben, was er mit dem Tod seiner Mutter verloren hatte. Haven nahm sich vor, ihn zu behüten, zu unterstützen und bedingungslos zu lieben. Und doch hatte es nur wenige Jahre gedauert, bis sie Beau fürchterlich im Stich gelassen hatte.
Haven sah auf ihre Uhr. Es war Punkt zehn, und abgesehen von einem einsamen Pförtner, der in seinem Häuschen am Tor Kaffee schlürfte, war Haven vollkommen allein. Während die Minuten vorbeitickten, begann sie sich Sorgen zu machen. Adam kam nie zu spät. Hatten die Ereignisse dieses Morgens ihn davon abgehalten, zu kommen?
»Warten Sie auf jemanden? Möchten Sie vielleicht hereinkommen und sich setzen?«, rief der Pförtner ihr aus der Tür seines Häuschens zu.
»Ich wollte mich hier mit einem Freund treffen«, antwortete Haven. »Aber er scheint ein bisschen spät dran zu sein.«
»Groß? Dunkler Mantel?«
»Ja, genau«, erwiderte Haven. »Das ist er.«
»Der ist schon vor einer ganzen Weile angekommen. Abgesehen von zwei jungen Frauen war er bis jetzt der einzige Besucher heute.«
»Haben Sie gesehen, in welche Richtung er gegangen ist?«
»Den Hügel rauf und dann links«, antwortete der Pförtner. »Wo er danach hingegangen ist, kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Danke«, entgegnete Haven.
Die Stadt verschwand hinter Haven, und Stille hüllte sie ein. Kalter Wind wehte ihr in den Rücken und schob sie sanft über den Pfad voran. Wo sie auch hinsah, wichen Engel ihrem Blick aus, die Gesichter entweder dem Himmel zugewandt oder zu Boden gerichtet. Als sie den Kamm des Hügels erreichte, drehte Haven sich ein letztes Mal zum Tor und der Pförtnerloge um und ging dann in den Wald. Sie hatte sich noch nie so allein gefühlt.
Der Weg schlängelte sich auf der anderen Seite des Hügels in eine Talsenke hinunter bis zu einem kleinen See. Am Fuß der Erhebung sah Haven eine Tür – der Eingang eines Grabs, tief in den Felsen geschlagen. Der Stil war altmodisch, doch der Marmor wirkte frisch gemeißelt. Das Weiß des Steins verschmolz beinahe mit dem Schnee, der die Umgebung bedeckte. Rechts und links von der Tür standen zwei Statuen, ein Mann und eine Frau. Haven erkannte in der eleganten Form der Skulpturen die Arbeit von Matteo Salvadore. Die Figuren trugen lange Roben mit Kapuzen, die dunkle Schatten auf ihre Gesichter warfen. Die meisten Besucher hätten sie für Trauernde halten können, doch der Blick in den Augen, die unter dem Stoff hervorlugten, war nicht bekümmert, sondern stolz. Diese beiden waren als Einzige aus freien Stücken hier auf diesem Friedhof. Sie waren hier, um zu herrschen.
Auf einer Bank in der Nähe des Sees saß eine schwarzgekleidete Gestalt und blickte hinaus auf das gefrorene Wasser.
»Schön ist es hier«, sagte Haven. Sie wünschte, sie könnte seinen Kopf unter Wasser drücken, damit er genauso viel Schmerz und Panik fühlte, wie Piero sie verspürt haben musste.
Adam saß so still, dass es wirkte, als wäre er Teil der Landschaft. »Ja. Und still. Ich habe nie verstanden, warum einige von euch es
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