Alles Ist Ewig
blieb sie gleich an einer Ecke stehen und kritzelte ein paar Entwürfe nieder. Die Ideen kamen so schnell, dass sie unmöglich alle zu Papier bringen konnte, und die Schneeflocken machten die Seiten wellig. Ein paar ausgelassene Teenager rannten an ihr vorüber und schrien einander die originellsten Schimpfwörter zu, während sie über die schneebestäubten Bürgersteige schlitterten. Sie schienen wirklich Spaß zu haben, dachte Haven und beobachtete, wie ein Junge und ein Mädchen sich ein Stück zurückfallen ließen und sich im Schatten zwischen den Straßenlaternen küssten. Havens Konzentration war dahin, und sie schlug ihren Zeichenblock zu. Auf dem Weg zurück ins Hotel konnte sie sich ein kleines bisschen Selbstmitleid nicht verkneifen.
Als sie ihre Zimmertür erreichte, steckte sie den Block in ihre Tasche, während sie sich mit dem Schloss abmühte. Sie machte einen Schritt ins Zimmer und erstarrte. Sie war sicher, dass sie alle Lichter angelassen hatte, doch der Raum war dunkel. Sie warf einen Blick auf die äußere Klinke und sah, dass das »Bitte nicht stören«-Schild noch immer dort hing. Als sie den Kopf hob, sah sie eine Gestalt in dem Sessel am Fenster sitzen. Das Licht aus dem Flur fiel auf ein Paar Männerschuhe. Havens Hand schoss zum Lichtschalter an der Wand, aber er war nicht da, wo sie ihn vermutet hatte. Während sie in der Dunkelheit herumtastete, erhob sich die Gestalt und kam auf sie zu. Der Mann war nur noch ein paar Schritte von ihr entfernt, da fanden Havens Finger endlich den Schalter.
»Lass das Licht aus! Die Vorhänge sind auf, jemand könnte uns sehen.«
»Iain!«, keuchte Haven.
»Psst.« Iain zog Haven ins Zimmer und machte die Tür hinter ihr zu. Als seine Lippen ihre fanden, schmolz die Taubheit, die sie noch einen Augenblick zuvor verspürt hatte, dahin, und ihr Körper begann zu glühen. In Iains Armen, eingehüllt in seinen Geruch, fühlte sie sich wunderbar geborgen. Nichts anderes war plötzlich mehr wichtig. Für nichts in der Welt würde sie dieses Gefühl zerstören, aber … eine Welle der Panik ergriff sie, und sie stieß ihn von sich weg.
»Was machst du hier?«, verlangte sie zu wissen. »Wie bist du ins Hotel gekommen?«
»Ich hab mich durch den Lieferanteneingang geschlichen. Ich musste dich sehen.«
»Das versteh ich ja, und du fehlst mir doch auch, Iain, aber ist dir eigentlich klar, wie gefährlich das war? Wenn wir Beau erst einmal gefunden haben, können wir jede Minute miteinander verbringen. Außerdem haben wir morgen zusammen einen Termin bei den Horae. Dann hätten wir uns doch sowieso gesehen.«
»Du hast recht. Ich werd’s nicht wieder tun, versprochen. Aber ich musste dich irgendwie wissen lassen, dass mir eine Idee gekommen ist. Mia hat mir erzählt, dass Padma Singh noch am Leben ist, und ich glaube, ich weiß auch, wo wir sie finden.«
Haven fragte sich kurz, ob Iain bei all dem Stress den Verstand verloren hatte. »Warum in aller Welt willst du denn Padma Singh finden?«
»Weil Padma Adams erster großer Fehler war, darum!« Haven hatte ihn schon lange nicht mehr so aufgeregt erlebt. Selbst als er stillhielt, schien er sich ununterbrochen zu bewegen. »Ich hab keine Ahnung, warum er sie am Leben gelassen hat. Padma hat geheime Akten über OG-Mitglieder geführt, als sie noch Präsidentin der Gesellschaft war. Sie weiß Bescheid über all die schrecklichen Dinge, die diese Leute getan haben. Wenn sie zu diesen Akten noch Zugang hat, dann dürfte sie damit über Beweismaterial verfügen, mit dem man die Hälfte der Mitglieder hinter Gitter bringen könnte. Das würde die Ouroboros-Gesellschaft zerstören!«
»Aber Padma will die Ouroboros-Gesellschaft nicht zerstören«, entgegnete Haven. »Ich habe gestern noch gesehen, wie sie Adam angefleht hat, sie wieder aufzunehmen.«
»Na, umso besser!«, rief Iain, sichtlich erfreut über die Neuigkeit. »Wenn Padma dich und Adam zusammen gesehen hat, ist jetzt bestimmt auch das letzte bisschen Hoffnung für sie gestorben, jemals wieder in die OG aufgenommen zu werden. Das macht es nur noch wahrscheinlicher, dass sie mir helfen wird.«
Das klang logisch, dachte Haven, als sie sich zu den Fenstern umdrehte. Draußen rieselten dicke Schneeflocken vom Himmel herab. Weit unter ihnen erstreckte sich ein weißes Nichts, wo noch ein paar Stunden zuvor der Gramercy Park gewesen war. Nur eine einsame Gestalt ging dort unten spazieren.
»Gib mir eine Woche«, bat Iain. »Mehr verlange ich gar nicht.
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