Alles kam ganz anders
Kleine kranke Tiere, denen man helfen könnte. Denen ich helfen könnte. Immer von Tieren umgeben zu sein. Die geliebten Vierbeiner, mit denen ich immer Kontakt gehabt hatte. „Elaine ist als Tiermensch geboren“, hatte Papa gesagt.
Diejenige zu sein, welche! Die das Wissen hatte. Die, die unvernünftigen Tierhaltern Ratschläge geben und ihnen erklären konnte, wie man sein Tier behandelt. Die, die das Recht dazu hatte – das Recht, das Studium und Wissen einem verleihen.
Keine toten Tongefäße um sich haben, sondern lebendige kleine Geschöpfe, deren Leiden man heilen kann.
Oh, Grand-mère, Grand-mère, was hast du mit den wenigen Worten bloß angerichtet!
Endlich schlief ich ein. Ich träumte, daß ich ein großes Tongefäß machte, ein langes, ovales Gefäß. Als Grand-mère mich fragte, was es sein sollte, antwortete ich: „Es ist für meine Praxis. Darin werde ich Meerschweinchen baden!“
„Jetzt weiß ich nicht, was ich machen soll“, seufzte ich am Frühstückstisch.
„Ich schlage vor, dein Zimmer aufzuräumen“, sagte Mama.
„Oder mir beim Autowaschen zu helfen“, schlug Papa vor.
„Ach, ihr versteht ja gar nichts! Ich spreche nicht von heute, sondern von der Zukunft! Grand-mère hat mir doch einen Floh ins Ohr gesetzt! Sie fragte ganz einfach, warum ich nicht Veterinärmedizin studieren will, und auf diese Frage weiß ich einfach keine Antwort. Ich sehe keinen Grund, warum ich nicht Veterinärmedizin studieren sollte!“
Mama guckte mich mit großen Augen an. Papa lächelte.
„Ich auch nicht“, sagte er. „Ich fände es großartig.“
„Was wird Ingo dazu sagen?“ fragte Mama.
„Warum sollte er nicht einverstanden sein? Steht es irgendwo geschrieben, daß ein Archäologe keine Tierärztin heiraten darf?“
„Das nicht“, meinte Papa. „Aber ihr werdet bestimmt nicht fünf Jahre mit dem Heiraten warten. Und was wird Ingo dazu sagen, daß seine Frau zu Vorlesungen geht, anstatt Staub zu wischen, Kartoffeln zu schälen, Kuchen zu backen…“
„Und Kinder kriegen“, ergänzte ich. „Es gibt unzählige Frauen, die es geschafft haben, ein Studium mit Hausfrauenaufgaben zu vereinen. Und mit allen elektrischen Hilfsmitteln, mit Tiefkühlkost und Dosenfraß und Anspruchslosigkeit und einem hilfsbereiten Ehemann wird es schon gehen!“
An diesem Gespräch nahm Grand-mère nicht teil. Sie bekam ihr Brötchen und ihre Tasse Kaffee ans Bett.
„Kein Wunder, daß sie sich ausruhen muß“, schmunzelte Papa. „Morgens liegt sie da und speichert Kräfte für ihre Tätigkeit bis spätabends!“
Ich glaube, Papa hatte recht. Denn nach Grand-mères Auffassung gehörte eine ausgiebige, mit viel Kunst und Liebe zubereitete Abendmahlzeit zu einem gelungenen Tag. Und die ganze Arbeit, die diese Abendgenüsse mit sich brachten, hatte Grand-mère mit sanfter Gewalt an sich gerissen.
Es war ja eigentlich gut, daß wir dieses so wichtige Gespräch auf deutsch führen konnten. Allerdings sprechen wir alle, abgesehen von Marcus, so ziemlich fließend Französisch – aber trotzdem!
„Zwei Dingen mußt du ins Auge sehen“, sagte Papa. „Erstens mußt du dir hundertprozentig im klaren sein, ob du dies wirklich willst, also daß es dein Ernst ist und nicht nur eine Laune. Und zweitens: Du hast dann ein ganz tolles Arbeitsjahr vor dir. Natürlich solltest du versuchen, ob du an der Veterinärhochschule in Hannover aufgenommen wirst, das wäre ja sehr praktisch – aber dazu gehört ein Abiturzeugnis sozusagen mit Goldkanten! Ich weiß nämlich, daß es sehr schwierig ist. dort aufgenommen zu werden, da ist ein enormer Andrang. Ohne ein Spitzenzeugnis ist es hoffnungslos!“
Ich blieb einen Augenblick mit entsetzten Augen und offenem Mund sitzen.
„Das heißt also…“
„Daß du dich auf deine vier Buchstaben setzen mußt, und zwar auf den Schreibtischstuhl – nicht auf den Pferderücken oder auf den Fahrradsattel. Daß du lernen mußt wie nie zuvor in deinem Leben. Ist dieser Wunsch bei dir so groß, daß du das auf dich nimmst? Kannst du dir denken, dein ganzes letztes Schuljahr mit pausenlosem Arbeiten zu verbringen?“
Ich mußte einmal tief schlucken, bevor ich antwortete.
„Ja. Papa. Ich werde es versuchen. Ich muß es einfach.“
„Gut“, nickte Papa. „Und wir beide“, er nickte Mama zu, „wir müssen eben zusehen, daß wir das notwendige Kleingeld für elf Semester Studium aufbringen!“
Nachmittags rief Ingo an. Ob er übers Wochenende kommen könnte?
„Und ob!“
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