Alles muss versteckt sein (German Edition)
hilft, wenn ich hier lustige Herzen in Stein schnitze!«, fährt sie den Therapeuten an. Die anderen blicken auf, Susanne von ihrem abstrakten Bild, das sie gerade mit Wasserfarben auf ein großes Stück Papier pinselt, Günther von seiner Collage aus Zeitungsschnipseln und Gertrud, die aus weichem Ton etwas formt, das entfernt an Nichts erinnert.
»Warum haben Sie sich denn ausgerechnet für ein Herz entschieden?«, fragt der Therapeut, seine linke Hand ruht noch immer auf Hannahs Schulter. Mit einem unwilligen Laut schiebt sie sie weg, greift wieder nach der Feile und fängt an, eines der Specksteinstücke wie wild zu bearbeiten.
»Weil unsere Kleine hier keins hat, da will sie sich eins aus Stein machen«, zischt Susanne Marie Beifall heischend zu. Marie senkt den Kopf, sie will nicht mit Susanne paktieren, schon gar nicht gegen Hannah. Aber alle anderen kichern.
»Weil mir der Eiffelturm für den Anfang etwas zu schwierig vorkam«, giftet Hannah erst in Richtung Therapeut, dann ersticht sie Susanne mit Blicken. Ralph Bäumer, der offenbar rein gar nichts mitbekommen hat, nickt, dann wandert er wieder zwischen den Tischen umher, wie er es während der letzten halben Stunde getan hat, beaufsichtigt die Arbeit seiner Eleven, ermuntert sie sanft, hält sie zu kleinen Fortschritten an, ohne dass irgendjemand tatsächlich wüsste, welchen Fortschritt ein Herz aus Speckstein darstellen könnte. Eins, zwei, drei, vier Speckstein, alles muss versteckt sein! Leise summt Marie die Melodie vor sich hin und freut sich über das kleine Wortspiel. Alles muss versteckt sein. Hinter mir und vorder mir gildet nicht, und an beiden Seiten nicht!
»Und was malen Sie, Frau Krüger?« Jetzt bleibt der Therapeut hinter Susanne stehen und wirft einen Blick auf das bunte Durcheinander, das sie aufs Papier geschmiert hat.
»Das ist ein Wald«, erklärt die Angesprochene eifrig.
»Was hat es mit diesem Wald auf sich?«
»Da bin ich früher immer mit Emma und Johnny Pilze sammeln gegangen. Das machen meine Kinder sehr gern, wissen Sie?« Ralph Bäumer gibt ein verstehendes »Aha« von sich. »Ich schenke das Bild Emma, wenn ich hier raus bin.« Emma. Hier raus . Susanne ist wieder in ihrem anderen Film, ihr Gesicht strahlt vor Freude und Zuversicht. Marie erwartet, dass Ralph Bäumer nun einschreitet, dass er irgendetwas sagt, um Susanne sanft aus ihrem Wahn zu holen. Aber das tut er nicht, er betrachtet weiter zufrieden das Bild.
»Emma ist tot.« Hannahs Rache für das Herz. »Und dein Johnny auch, die hast du beide umgebracht.« Sie sagt es sachlich und kühl, ohne jede Häme, stellt es einfach nur fest. Susannes Kopf fährt herum zu ihr, das eben noch leuchtende Gesicht zu einer bösen Fratze verzerrt.
»Fotze!«, stößt Susanne hervor. Dann nimmt sie das Wasserglas, in dem ihre Pinsel stecken, hebt es hoch und kippt es über ihr Bild.
Seelenruhig feilt Hannah weiter an ihrem Stück Stein, das ganz allmählich tatsächlich die Form eines Herzens annimmt. Plötzlich scheint ihr die Sache Spaß zu machen.
Marie sieht durch eines der vergitterten Fenster nach draußen in den Garten. Vom Werkraum aus sind weite Teile des restlichen Geländes einsehbar. Auch andere Patienten machen in der Klinik Therapie, neben der Forensik befinden sich noch Einrichtungen für »normal Verrückte« auf dem Areal. Depressive Hausfrauen, suizidale Teenager, ausgebrannte Geschäftsleute, sie alle sollen hier von ihrem Leid geheilt werden. Und auch »normal« Zwangserkrankte, solche, die im Gegensatz zu Marie die Grenze zwischen Denken und Tun nicht überschritten haben, die gibt es ebenfalls.
Vorhin, als Marie zusammen mit den anderen von drei Betreuern in die Ergotherapie gebracht wurde, hat sie einen jungen Mann gesehen, Anfang zwanzig vielleicht, der jenseits des eingezäunten Geländes durch den öffentlichen Bereich spazierte. Sie hat ihn sofort erkannt, so wie sich Zwangskranke gegenseitig erkennen; daran, dass er immer vier Schritte vorwärtsging, dann kurz innehielt, die Augen schloss und etwas vor sich hinmurmelte, einen Schritt zurücktrat, um die Augen dann wieder zu öffnen und vier Schritte nach vorn zu gehen. Harmlos, so ein Zählmarschierer, so einer steht nur sich selbst und seinem eigenen Leben im Weg. Absurd, gestört, ja lachhaft, das schon – aber ansonsten eher bemitleidenswert als gefährlich.
Marie spürt Neid in sich aufsteigen, während sie an den jungen Mann denkt und gleichzeitig Hannah dabei beobachtet, wie sie erneut
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