Alles oder nichts
die Treppe und zu dessen beiden Seiten die Türen zu den einzelnen Wohnungen lagen. Das Haus hatte drei Stockwerke, aber einen Fahrstuhl gab es nicht. Das Apartment 304 lag im dritten Stock nahe der Vorderfront des Hauses. Ein Schild auf dem Briefkasten an der Tür besagte, daß die Wohnung einer Dorothy Grail gehörte.
Ich drückte auf die Klingel. In der Wohnung waren Schritte zu hören. Die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet, nicht weiter, als es die eingehakte Sicherheitskette erlaubte. Durch diesen Spalt waren ein Paar schwarze, forschende Augen neugierig auf mich gerichtet.
»Wohnt hier nicht Miss Starr?« fragte ich.
»Nein, hier wohnt Miss Grail.«
»Und Miss Starr wohnt auch nicht in der Nachbarschaft?«
»Nein.«
»Kennen Sie denn keine Miss Starr?«
»Nie gehört«, antwortete die Frau an der Tür und wollte sie schon wieder schließen.
Ich sprach absichtlich gedämpft, mit schnellen, abgehackten Sätzen. »Das verstehe ich nicht. Ich komme von einer Versicherung. Mir wurde diese Adresse angegeben. Es handelt sich um einen Schaden an einem Fahrrad.«
Darauf hörte ich schnelle, flüchtige Schritte und Nollie Starrs Stimme sagen: »Das ist etwas anderes, Dot. Laß ihn herein.«
Die Schwarzäugige löste die Sicherheitskette, und ich trat in die Wohnung. Sie bestand aus zwei Räumen und einer winzigen, engen Küche. Das Zimmer, in dem ich stand, war mittelgroß, an einer Wand befand sich ein großes Klappbett.
Nollie Starr erkannte mich fast augenblicklich wieder. Auf ihrem Gesicht vermischten sich ein Ausdruck von Ärger und von Furcht. Am Tisch in einer Ecke des Zimmers saß ein Mann. Als er merkte, wie Nollie Starr überrascht und erschrocken tief Luft holte, blickte er schnell auf. Sein Gesicht war durch die Nähe des Fensters deutlich zu erkennen. Es war Jim Timley.
»Guten Tag«, sagte ich. »Ich will Sie nicht in Ihrem trauten Plauderstündchen stören, aber mir scheint der Zeitpunkt gekommen zu sein, daß ich mich Ihnen bekannt mache.«
Timley zog die Beine an, aber er mußte die Kraft seiner Arme zu Hilfe nehmen, um sich aus seinem Sessel zu erheben. Die Überraschung, mich so unerwartet an diesem Ort zu sehen, schien ihm alle Kraft genommen zu haben.
Nur die schwarzäugige junge Frau hatte offenbar nicht den Wunsch davonzulaufen. Ohne Zweifel hatte sie die Situation nicht begriffen und musterte mich mit neugierigen Blicken.
»Mein Name ist Lam. Anscheinend hat niemand die Absicht, mich Ihnen vorzustellen, da muß ich es eben selbst tun. Sie sind wohl Dorothy Grail? Und nun dürften wir uns ja alle kennen. Wollen wir uns hier unterhalten, oder ist es Ihnen lieber, wenn wir Miss Grail aus dem Spiel lassen?«
Dorothy Grail schloß die Tür hinter mir und schob den Riegel vor. »Warum wollen Sie nicht hier bleiben?«
»Hören Sie zu, Lam«, begann Timley. »Ich kann Ihnen alles erklären, obwohl ich das ja nicht nötig habe.« Er warf einen Blick auf Nollie Starr, anscheinend, um sich Mut zu machen, und fuhr fort: »Offen gesagt, bin ich der Meinung, daß es Sie gar nichts angeht.«
Nollie Starr nickte zustimmend.
Timley wurde sicherer. Er glaubte, den richtigen Weg gefunden zu haben, um sieh aus der Affäre zu ziehen. Er kam auf mich zu, aber auf seinem bronzefarbenen Gesicht waren unverkennbar Nervosität und Unsicherheit zu lesen.
»Ich habe für Schnüffler noch nie etwas übrig gehabt«, sagte er, »das gilt auch für Sie. Sie sind durch jene Tür gekommen. Ich zähle bis drei, und dann sind Sie wieder verschwunden. Eins - zwei...«
»Stimmt. Mich geht es nichts an, was Sie hier suchen, aber ich habe von Mrs. Devarest den Auftrag, gewisse Tatsachen festzustellen und ihr zu berichten. Die Erklärungen darüber, was Sie hier tun, überlasse ich gern Ihnen.« Damit wandte ich mich zur Tür um.
»Halt, Lam, bleiben Sie!« hielt mich Timley mit erschrockener Stimme zurück.
»Ach? Haben Sie mir doch etwas zu sagen? Dann bitte.«'
Timley sah wieder zu Nollie Starr hinüber. Er schien hilflos und so verängstigt wie eine Katze, die sich auf eine Telegrafenstange hinaufgewagt hat und nun nicht weiß, wie sie wieder herunterkommen soll.
In vermittelndem Ton sagte Nollie Starr: »Da Sie sich doch schon so weit in meine Privatangelegenheiten gemischt haben, Mr. Lam, kann ich Ihnen ja auch alles erzählen.«
»Das würde mir Zeit sparen«, erwiderte ich.
Miss Starr sprach in dem gelassenen, selbstsicheren Ton einer Frau, die die Situation völlig beherrscht. »Sie sind
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