Alles paletti
solche Storys von dir höre. Ich werde dir erklären, was mich nervös macht. Ihr beide seid
draußen mit einem Laster, die Kunden bedrängen mich, es gibt einen Haufen Arbeit in New York, und jetzt muss ich mir anhören, dass du wegen ein bisschen Schnee zu fahren aufhörst? Du? Der große Jonsy?«
Jonsy antwortete nichts darauf. Er versuchte sich zu beruhigen. Er versuchte, nicht zu explodieren.
»Hallo?«, schrie Chaim.
»Ja, ich bin da. Sagt allen Kunden auf der Strecke wegen der Verspätung Bescheid.« Er legte auf, ohne die Antwort abzuwarten.
Chicago umfährt man auf der nervenaufreibenden Umgehungsstraße Nr. 294. Alle zwei Meilen hält einen eine Tollstation wegen fünfzig Cents auf. Als gäbe es nicht ohnehin schon genug Staus. Sie kriechen wieder im Schneckentempo dahin. Jonsy stoppt hinter einer der Tollstationen, um auf den Schnee am Straßenrand zu urinieren. Die Luft ist kalt und klar, der Urin bohrt ein gelbes Loch in den Schnee. Ihm fällt auf, dass er lange Zeit keine Erde gerochen hat.
»Wieso können die nicht eine Station mit sieben Dollar machen statt dieser ganzen Mini-Tolls?«, fragt Izzi.
Jonsy erwidert: »Wusstest du, dass die Selbstmordrate unter den Angestellten an den Tollstationen viermal so hoch ist wie der allgemeine Durchschnitt oder so ähnlich?«
Die Geräusche aus dem Radio zeigen an, dass der Empfang schwindet. Das passiert häufig, und dann drückt man auf den Suchknopf. Auf dem neuen Sender reden sie über alles Mögliche: El Niño, DiCaprio, »Titanic«. Clintons Sexaffären.
Das ist die Zeit, um einen Hershey-Kuss aus der Tüte zu holen, die Silberfolie abzuschälen, ihn in den Mund zu stecken, einen Schluck Kaffee zu nehmen und damit den Kuss
schmelzen zu lassen - das ist garantiert der Moment, der dem Paradies für Lastwagenfahrer am nächsten kommt.
Izzi bemerkt: »Pessach ist in ein paar Tagen, nicht? Wie sollen wir feiern?«
»Normalerweise machen meine Freunde von Moishe’s einen Sederabend bei Alon in der Manila Avenue - Humus, Pita, Drogen und Wodka. Aber es schaut mir nicht danach aus, als würden wir so bald nach New York zurückkommen.« Nach einem kurzen Schweigen fügt Jonsy hinzu: »Vielleicht machen wir einen Stopp und feiern den Seder in irgendeinem McDonald’s.«
»Stell dir vor«, lächelt Izzi, »Schlomi wäre am Sederabend mit uns in einem McDonald’s. Er würde einen wunderbaren Abend veranstalten.«
Sie fahren. Noch ein Hershey-Kuss schmilzt mit einem weiteren Schluck Kaffee. Noch ein Sonnenblumenkern wird gespalten. Noch ein Satz in den Raum geworfen.
»Dieses Leben, was’n Hundeleben.«
»Scheiße.«
»Und diese Nazis. Glaub mir, historische Gerechtigkeit.«
In Izzis Bauch flattert es ein wenig, als ihm die Bilder und die Summen einfallen, von denen Jigal gesprochen hat. Er fingert an seinem Ohrring. Wie er da gelandet ist, weiß er nicht. Manchmal ertappt er sich mitten unterm Fahren dabei, dass er sich fragt, wie es denn sein kann, dass der kleine Izzi aus Nazareth mit einem Lastwagen auf den riesigen Straßen Chicagos herumkurvt, wie bloß?
Jonsy sagt: »Bei diesen Bildern fällt mir ein, ich hab mal einen umgezogen, einen Künstler, vom Chelsea-Hotel. Was für ein Künstler, was für Bilder und Plastiken! Er hatte das Original vom Umschlagbild des New Yorker . Er hat gesagt, ›tut mir
einen Gefallen, das Geld ist mir egal, es kann kosten, was es will, wenn bloß den Sachen nichts passiert.‹ Ich habe den Job mit einem Arbeiter durchgezogen. Ein Tag, ein Fünftausend-Dollar-Auftrag und hundertfünfzig Dollar Tip für jeden. Das war vielleicht ein Künstler. Ein Homo. Es geht nichts über Homos in Sachen Großzügigkeit. Nichts zu machen, im Moving lernst du so einiges. Du lernst, dass die Homos großzügig sind. So wie die Reichen die aberwitzigsten Knickerärsche sind, so sind die Homos am großzügigsten. Und die Bimbos sind echt megabekloppt.«
Izzis rechter Fuß schmerzt. So ist das, wenn man die ganze Zeit aufs Gaspedal drückt. Er drückt mit dem linken Fuß aufs Gas und sagt: »Mir scheint, ich hab die Beinkrise beim Fahren. Die Fahrkrise.«
Dreiundzwanzigeinhalb Jahre ist Izzi fast nicht aus Nazareth herausgekommen. Hin und wieder einmal Haifa oder Tel Aviv -Letzteres zweimal insgesamt. Zum ersten Mal in seinem Leben ist er zwei Monate am Stück von zu Hause weg. Aber er fand andere Wege herauszukommen. Zuerst mit Radio und Kino, danach durch Zeitschriften, Fernsehen und in den letzten Jahren per Internet. Das
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