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Alles Umsonst

Titel: Alles Umsonst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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eine lange Hauptstraße, Marktplatz und Kirche. In der dritten Straße rechts stand ganz richtig der große Ackerwagen, und die beiden Braunen wedelten mit dem Schwanz, als er da erschien. Peter gab Wladimir Bescheid, daß sie nicht vor dem Fußballtor stehen, sondern an der Turnhalle! Und dann suchte er eine Drogerie, weil er seine Zahnbürste vergessen hatte. Hier mußte doch irgendwo eine Drogerie existieren?
    Er fragte Einheimische, ob es hier eine Drogerie gäbe? – Die Einheimischen sahen anders aus als die Treckleute, die nun «Flüchtlinge» genannt wurden. Die Einheimischen gingen mit Aktentasche ins Büro, und in einem Café saßen Damen mit Hut. Peter wurde freundlich Auskunft erteilt. Eine Frau nahm ihn sozusagen bei der Hand, begleitete ihn, damit er die Drogerie auch findet, und fragte ihn, ob er meint, daß die Russen auch noch hierher kommen? Sie hat solche Sorge, was soll sie bloß machen?
    «Bist du denn ganz allein?»
    Gern hätte Peter von seiner Mutter erzählt, daß die abgeholt worden sei, aber vielleicht nachkommt...
     
    An der Drogerie standen die Menschen Schlange, Heil Hitler, es dauerte, bis Peter endlich seine Zahnbürste kriegte. Er kaufte auch gleich noch Zahnpulver und ein Stück Seife, für die man eigentlich in die Kundenliste eingetragen sein mußte, aber bei ihm als Flüchtling machte man eine Ausnahme. Er nahm auch noch ein Tütchen italienisches Süßholz mit, das kostete fünf Pfennig und schmeckte angenehm nach Lakritze.
    Nun konnte ihm nichts mehr passieren.
    «Tür zu! » rief der Drogist.
    Das Süßholz würde er vor dem Tantchen verbergen müssen, das war Geldverschwendung gewesen.
     
    Neben der kleinen weißgekalkten Kirche standen altertümliche Grabkreuze, schief im Boden, und neue aus frischem Holz. Ein Mann brachte ein Bündel, das war ein totes Kind. Der Pastor kam und sagte: «Legen Sie es da hin, ich kümmere mich darum.» Drehte sich nochmals um und fragte: «Wie heißt es?» Schrieb das auf einen Zettel und steckte den Zettel dazu.
    Da lag das Bündel dann unter dem zugigen Portal, und der Zettel flog davon.
     
    In der Kirche fummelte einer an der verstimmten Orgel herum:
     
    O Ewigkeit, du Donnerwort,
    o Schwert, das durch die Seele bohrt,
    o Anfang sonder Ende …
     
    Peter betrachtete die schiefen Kreuze. Hatten die Toten darunter gekrümmtes Gebein? So wie der Christus in der Kirche von Mitkau? die Füße so gekrümmt übereinander? Hatte Elfie auch gekrümmte Füße in ihrem Gab, oder lagen sie gerade nebeneinander?
    Leichenschweiß. Hatte man ihr die Füße mit warmem Wasser abgewaschen? Den ganzen Körper mit einem warmen Schwamm? Das Haar ein letztes Mal gebürstet und zu Zöpfen geflochten?
     
    O Ewigkeit, Zeit ohne Zeit!
    Ich weiß vor großer Traurigkeit nicht,
    wo ich mich hinwende …
     
    Er erinnerte sich nicht mehr, wie seine kleine Schwester überhaupt ausgesehen hatte.
    Auf ihr Grab war noch kein Stein gesetzt worden. Das könne man ja immer noch machen, hatte es geheißen. Kein Stein auf dem Grab? Kein Name, nichts?
    Einen Maiglöckchenstrauß hatte man ihr in die Hände geschoben.
    Wer würde je nach ihr suchen?
     
    Neben der Kirche war eine Kneipe, davor zwei zum Strunk beschnittene Linden. In der Kneipe gab es Dünnbier. Zwei Männer torkelten über die Straße, sie hatten einen taumelnden Menschen in ihre Mitte genommen. Auch das waren Flüchtlinge. – «He hätt runde Fäut! » sagte einer zu Peter, und der verstand überhaupt nicht, was der damit meinte.
     
    Die Frau, die ihn zur Drogerie geleitet hatte, begegnete ihm dann noch einmal, und da konnte sie nicht an sich halten, undsie sagte: «Armer Junge, daß du hier so ganz allein umherläufst? Hast du denn gar niemanden auf der Welt?» Und sie lud ihn ein, mitzukommen in ihre Wohnung, sie habe noch ein Stück Kuchen, das werde ihm gewiß schmecken.
    Die Frau wohnte zwei Treppen hoch mit Blick auf einen Hinterhof, die Wanduhr zeigte auf vier und machte binge-bangebung-böng!, und dann saß Peter auf dem grünen Troddelsofa und ließ sich Kuchen vorsetzen und erzählte lange Geschichten davon, was er alles durchgemacht hat. Sein Dorf – «Sie kennen es nicht» – sei in der Nacht von Russen eingenommen worden, erzählte er, und er habe sich in den Holzschuppen gehockt, die Russen draußen, so geduckte erdbraune Gestalten, vorbeigeflitzt und er sich in eine Ecke gedrückt und nicht gerührt, das Herz habe ihm im Halse geschlagen!
    Die Frau hörte ihm gespannt zu. Und er erzählte

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