Alles Ware - Glanz und Elend der Kommerzkultur
Pierre-Michel Menger. Diese neuen, subtileren und manifesteren Ungleichheiten,
behauptet er, seien das eigentliche
Ziel
der Kulturalisierung des Ökonomischen. Dass die zentralen Werte der Künstlerexistenz – Kreativität, Fantasie, Improvisation,
atypisches Verhalten – zu den neuen Arbeitnehmertugenden erklärt werden, dass die »kreativen Klassen« als die vorbildhaften
Figuren des Wirtschaftslebens gepriesen werden, habe, so Mengers These, von Beginn ab zur Absicht gehabt, die Gleichheits-
und Solidaritätskultur des fordistischen Kapitalismus auszuhebeln. In den Kunstberufen waren ja die Unsicherheiten und Ungleichheiten,
die in der »Normalwirtschaft« nicht mehr akzeptiert wurden, immer schon üblich. »In Kunst, Theater und Film herrschen genau
wie im Sport ganz erhebliche Erfolgs- und Gehaltsungleichheiten, die eine große Faszination ausüben, gesellschaftlich akzeptiert
sind und gleichzeitig ostentativ zur Schau gestellt werden.« 144 Vom Markt »geförderte Ungleichheiten«, etwa, dass ein Maler Millionen verdient, während zehn andere am Hungertuch nagen,
wurden in der Kunstwelt schon zu einer Zeit als »normal erachtet und zelebriert«, als in Industrie, Fabriken und Büros die
Gewerkschaften noch darüber wachten, dass die Einkommensschere zwischen Spitzen- und Normalverdienern nicht zu weit aufging.
Die Kulturmärkte sind nachgerade
The-winner-takes-all -Märkte
in Reinkultur, wo feine Unterschiede große Folgen haben – so ähnlich wie im Sport, wo der, der stetig ein bis sieben Hunderstelsekunden
schneller ist als |161| die Konkurrenz, möglicherweise ein zehn- bis zwanzigmal höheres Einkommen hat als der Zweite und in einer völlig anderen Liga
spielt als der zehnte, auch wenn der ebenfalls ein Weltklasseathlet ist. Das »Kreativitäts«-Paradigma, das von den Kunstmärkten
in die normalen Arbeitsmärkte eingewandert ist, sollte also von vornherein die Ungleichheiten verallgemeinern und legitimieren,
die im Kunstfeld seit je akzeptiert sind, so Mengers These.
Diese Basisannahme verdeutlicht der französische Soziologe anhand verschiedener Aspekte. Die Kulturbranchen, führt Menger
aus, zeichnen sich durch einen weitgehenden Mangel an sozialer Absicherung aus. Menger: »Ich-Unternehmertum,
free-lancing
und die sonstigen atypischen Beschäftigungsarten sind die vorherrschenden Formen der Arbeitsorganisation im Bereich der Kunst«.
Die Propagierung des Künstlermodells führte damit zur Ausweitung der Zonen »(hyper)flexibler Arbeitsformen« – über den Kunstbereich
hinaus. Der Köder der nichtentfremdeten Arbeit, nichtmaterieller Entschädigungen (wenig Arbeitsroutine, hohe gesellschaftliche
Anerkennung) habe viele Menschen dazu verleitet, Bedingungen mit Freude zu akzeptieren, denen sie sich durch bloßen Zwang
nie gebeugt hätten. Sie haben nicht nur relative soziale Einförmigkeit gegen mehr Vielfalt eingetauscht – sie haben Möglichkeiten
gegen Sicherheit getauscht, also mit den Optionen auch Unsicherheit bekommen.
Im Kulturkapitalismus materialisiert sich Ungleichheit auch im Stil – was ihn noch nicht von seinen Vorfahren, von allen anderen
Klassengesellschaften unterscheidet. Der Schnösel, der sich zu den Besitzenden zählen durfte, rümpfte immer die Nase über
die Vulgarität der Habenichtse. Der Kulturkapitalismus wäre freilich nicht, was er ist, würde er nur für die Oberen einen
ästhetischen Stil produzieren und die unten der »Stillosigkeit« preisgeben. |162| Er etabliert, so paradox das klingen mag, für die kulturell Abgehängten einen eigenen kulturellen Stil (und hin und wieder
kannibalisiert der Mittelschichtstil den Unterschichtstil, etwa, wenn Modemarken »Street Credibility« zu erlangen suchen).
Diese Stildifferenz ist es, die im neuerdings so häufig gebrauchten Wort »Unterschicht« mitschwingt. Die »Unterschicht« wird
ja nicht mehr nur durch harte materielle Faktoren – Haushaltseinkommen, Arbeitsplatzsituation – charakterisiert. Ja, hinsichtlich
dieser materiellen Faktoren muss sie sich im Extremfall gar nicht so sehr von manchen Segmenten der »Zeichen mächtigen « unterscheiden, etwa von prekär lebenden »neuen Selbstständigen« in der Medien-, Design- und Internetwelt. Was die Unterschicht
erst zur Unterschicht macht, ist ihre Gefangenschaft in ihrem eigenen kulturellkonsumistischen Universum – in ihrem »Unterchic«.
Insofern macht auch der Begriff des »Unterschichten-Fern sehens «,
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