Alles Ware - Glanz und Elend der Kommerzkultur
der in den vergangenen Jahren für Furore sorgte – der neokonservative Historiker und Publizist Paul Nolte hat ihn geprägt,
der Entertainer Harald Schmidt berühmt gemacht –, einigen Sinn. Er verweist darauf, dass heute jedes Gut in vielfältigen Formatierungen
zu haben ist und sich Ober- und Unterschicht nicht insofern unterscheiden, dass die Oberschicht konsumiert und der Unterschicht
die materiellen Ressourcen zum Konsum fehlen, sondern dass sich, um das mit einem berühmten Wort des französischen Soziologen
Pierre Bourdieu zu sagen, längst extrem »feine Unterschiede« etabliert haben. Um beim Beispiel Fernsehen zu bleiben: Für die
kulturellen Oberklassen gibt es Arte und 3sat, für die Mittelschicht ARD und ZDF und für die Unterschicht Sat.1 und RTL. Das
Negative an dieser Ausdifferenzierung ist, dass mit ihr die gesellschaftliche Distanz wächst, die sich durch Geschmack, Habitus,
eine »endlose Reihe von
distinguos «
145 auftut.
|163| Unterschichtler, das sind aus dieser leicht herablassenden Perspektive Menschen in bunten Unterschichtentrainingsanzügen mit
Unterschichtenhunden (die eher bissigen Rassen), die auf grelle Farben und entsprechende Materialien stehen – nix öko, nix
bio. Am trainierten Männerbizeps haben sie flächendeckende Tatoos, am Frauenrücken ein Arschgeweih und sie kennen sich gut
aus im Leben der Unterschichtscelebrities: Paris Hilton, Verona Feldbusch, Hugo Egon Balder, Hella von Sinnen, Stefan Raab.
Gewiss war der Konsum von Kultur, und zwar ziemlich unabhängig »vom Willen und Wissen der Beteiligten«, immer ein prima Mittel
zur »Legitimierung sozialer Unterschiede« 146 , wie Bourdieu so nachdrücklich nachwies – doch im Kulturkapitalismus wird, was immer schon angelegt war, radikalisiert und
endemisch. Gleichzeitig wird es auf seltsame Weise unsichtbar, denn was in Wahrheit Stigmatisierung ist (mit einer Prise Selbststigmatisierung,
wie das bei Underdogs oft vorkommt), erscheint vordergründig nur als einer von vielen möglichen Lebensstilen. Indem Mode,
Stil, Image alles durchdringen, werden die Gesetze von Mode, Stil und Image prägend für das gesamte soziale Leben – die »Strategien
des Überholens, Überbietens« 147 . In einer ständigen Bewegung werden Lebensstile entwertet, werden selbst distinktive Konsummöglichkeiten im Handumdrehen
zum Selbstverständlichen degradiert, wird in einer Art permanenter »avantgardistischer Flucht nach vorn« 148 (auch hier ist die Ähnlichkeit mit Künstlerstrategien nicht zu übersehen) der Lebensstil Weniger mit dem Attribut »cool«
versehen, der Lebensstil der Meisten mit »uncool«. Nur sagt man heute eben »uncool« statt – wie einst – »vulgär«, sodass das
Coole (und respektive das Uncoole) als individuelle modische Präferenz erscheint und gar nicht mehr so einfach als gesellschaftliche
Strategie der |164| Ungleichmacherei erkennbar ist. Oder anders und einfacher gesagt: Wenn den Kulturkapitalismus auszeichnet, dass die Nachfrage
nach den kulturellen Aspekten der Güter das Entscheidende ist, so wird der Kulturkonsum – und mit ihm eben die Produktion
sozialer Distanz durch Kultur – derart dominant, dass er mit Fug und Recht als ein kräftiger Motor zur Verschärfung sozialer
Unterschiede angesehen werden darf.
Die andere Seite der Medaille ist allenfalls eine, die man leicht positiv bilanzieren könnte: Im Konsumkapitalismus können
selbst die Unterprivilegierten nicht völlig vom Konsum exkludiert werden. Sie tragen ihren Teil zur Massenkaufkraft bei, und
für sie gibt es eben auch ein eigenes Konsumsegment – vom Unterschichtenfernsehen bis zu den No-Name-Sportartikelherstellern
und Videoverleihen, von der Vorstadtdisko bis zum grellen Bummbumm in den Urban Entertainment Center. Kaum ein Hartz-IV-Haushalt,
in dem sich nicht DVD-Abspielstation und MP-3-Player finden. Der Staat überweist ALG II, die Gelder werden praktisch vollständig
in den Konsumkreislauf eingespeist, übersetzen sich also nahezu hundertprozentig in konsumierte Kaufkraft, und die Unterschichten
werden auch noch durch Entertainment ruhig gestellt. Ein nachgerade perfektes System!
Freilich, man sollte einem Irrtum nicht aufsitzen: All das hat mit der Entwicklung eines genuinen, authentischen »Unterschicht-Stils«
wenig gemein. Im Gegenteil: Die Variationen, die der Konsumkapitalismus zur Auswahl hat, sind alles Varianten des einen, des
»modernen Stils«. Womöglich ist
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