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Alles Ware - Glanz und Elend der Kommerzkultur

Titel: Alles Ware - Glanz und Elend der Kommerzkultur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Misik
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nicht reden will, der braucht sich über Ungerechtigkeit nicht zu beklagen.

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    |168| 9. Die Norm und die Anderen
    Westliche Kultur versus »die Kulturen« oder: Wie wir uns mit der Verbreitung der Konsumzivilisation einen Kampf der Kulturen
     einhandelten.
    »Unser erstes Ziel ist es, uns selbst zu verändern, so dass wir später die Gesellschaft verändern können«, schrieb der feingliedrige
     Mann mit den auffälligen Glubschaugen und dem gepflegten Oberlippenbart. Einen apodiktischen Satz reihte er an den nächsten,
     jeder Absatz sollte ein Imperativ sein. Es ging ihm um nichts weniger als die Zerschlagung »aller Systeme und Regierungen,
     die auf der Herrschaft von Menschen über Menschen beruhen und auf der Versklavung von Menschen durch andere Menschen«. Vor
     allem der »Materialismus«, zum »höchsten Wert erhoben, wie das in den Vereinigten Staaten und Europa der Fall ist«, verlange
     danach, dass »alle menschlichen Werte auf seinem Altar geopfert würden« – eine derart vom Kommerz geprägte Welt, mag sie ökonomisch
     und technisch noch so avanciert sein, sei »eine rückständige Gesellschaft«.
    Nein, die Sätze sind nicht von Karl Marx, auch nicht von Michail Bakunin, dem Urvater des Anarchismus, und sie stammen auch
     nicht aus einer der vielen Anklagen gegen Kommerz, Konsum und Werbung, die die rasante Ausbreitung des globalen Kapitalismus
     im 20. Jahrhundert wie sein Schatten begleiteten – nein, sie stammen aus dem Schlüsseltext des islamistischen Radikalismus.
     Sayyed Qutb, der ägyptische fundamentalistische Intellektuelle, der nicht nur in der arabischen Welt längst legendär |169| ist, hat sie Mitte der 60er Jahre aufgeschrieben, in seinem kleinen Pamphlet »Meilensteine«, in dem er auf knapp hundert Seiten
     die Denkweise des neuen Dschihadismus darlegte. 1964 wurde die Kampfschrift veröffentlicht; Qutb, der schon seit 1955 die
     meiste Zeit im Gefängnis gesessen hatte, wurde 1966 gehängt – nicht zuletzt wegen der gefährlichen Ideen, die er verbreitet
     hatte. Sein Denken brachte der Strang freilich nicht aus der Welt. Für den islamischen Radikalismus ist »Meilensteine« heute
     das, was früher das »Kommunistische Manifest« für die bolschewistische Weltbewegung war. »Die materialistische Attitüde tötet
     allen Geist ab, die Menschen benehmen sich wie Tiere«, schrieb Qutb, und der Islam werde ihnen zurufen: »Das Leben, das ihr
     lebt, ist niedrig. Wir werden Euch zu einem neuen Leben erhöhen.«
    Schon ein schneller, oberflächlicher Blick in diese Urschrift der islamistischen Doktrin zeigt somit, dass der Aufstieg des
     muslimischen Radikalismus und die globale Verbreitung des westlichen Kapitalismus einen inneren Zusammenhang haben. Die dschihadistische
     Mentalität wandte sich von Beginn an gegen die weltweite Ausbreitung eines einzigen Modells, und ihr extremistischer Irrsinn
     hängt auch mit dem Umstand zusammen, dass dieses Modell nicht allein mit Zwang und imperialistischer Gewalt verbreitet wurde,
     sondern über eine ungeheure Anziehungskraft verfügt – schließlich wandte sich Qutb ja auch an seine Landsleute und Glaubensbrüder,
     die die Waren der Kommerzkultur wie »Götzen« anbeten. Der Westen muss andere Kulturen in seine Konsumzivilisation nicht hineinzwingen
     – diese hat eine verführerische Kraft und eine ökonomische Wucht, die dazu führt, dass andere Kulturen sich gewissermaßen
     automatisch an ihr orientieren. Wie ein starker Magnet, der noch weit entfernte Kraftfelder beeinflusst, ordnet auch der westliche
     Konsumkapitalismus |170| das gesamte globale Setting neu – egal, ob das irgendjemand im Westen in einem engen, planmäßigen Sinne »will« oder nicht.
     Und das provoziert Unbehagen und Abwehrreaktionen. Diese sind ein faktisches Resultat, dessen innere Logik sich nicht einfach
     aus der Welt bringen lässt, und völlig unabhängig davon, ob wir nun das liberaldemokratische marktwirtschaftliche System des
     Westens für »gut«, »schlecht« oder zumindest für »besser« halten als andere Systeme auf der Welt. Auch die Tatsache, dass
     im Rahmen des globalen kapitalistischen Systems die reichen westlichen Länder ihre Vormachtstellung nützen, um auf unfaire
     Weise ihre Vorteile gegenüber weniger entwickelten Ländern zu perpetuieren, reicht zur Erklärung der neuerdings anschwellenden
     internationalen Konflikte nicht aus. Dies ist zwar unzweifelhaft der Fall und verschärft viele Probleme unnötig – aber

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