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Alles, was er wollte: Roman (German Edition)

Alles, was er wollte: Roman (German Edition)

Titel: Alles, was er wollte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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war das aufregend, so ganz allein, ohne Erwachsene! Ich erinnere mich, daß Pippa in einem Beutel eine Flasche Kakao mithatte, in Flanelltücher eingewickelt. Ihr war so bange, daß sie gar nicht viel trinken konnte, aber ich, ich habe alles auf einmal getrunken, ach, und war mir später übel! Aber es ist alles noch präsent – es ist eine wundervolle Erinnerung.«
    Sie rieb sich am Feuer die Hände. Sie hatte große Hände, beinahe so groß wie meine.
    »Und wie hat man Sie gefunden?« fragte ich.
    »Ein Suchtrupp wurde losgeschickt. Man fürchtete, wir wären im Eis eingebrochen. Ich weiß nicht, wie lange wir vermißt waren, mehr als ein, zwei Stunden können es nicht gewesen sein, aber für ein Kind kann das eine Ewigkeit sein, nicht wahr? Vermutlich auch für eine Mutter. Ich weiß noch, daß ich schrecklich enttäuscht war, als man uns gefunden hatte.«
    Sie lachte. Das Haar fiel ihr, von der Nässe geringelt, um Stirn und Wangen. Ich sah mich im Speisesaal um, der nur schwach besetzt war. Außer Etna war keine Frau anwesend. Einige Männer, die Etna beobachtet hatten, wandten sich widerstrebend ab, als ich sie ansah; andere nickten und lächelten verständnisinnig.
    »Ach, tut die Wärme gut«, sagte sie. »Man weiß diese Annehmlichkeiten gar nicht richtig zu schätzen, wenn sie so leicht verfügbar sind.«
    »Wir sollten uns zum Essen setzen«, sagte ich. »Sie sind sicher hungrig.«
    »Ja, das bin ich«, antwortete sie, sich zum erstenmal umsehend. »Ich bin richtig ausgehungert.« (Das war auch so etwas an Etna; sie hatte einen fabelhaften Appetit für eine Frau.)
    Wir sprachen, wir sprachen über … ja, worüber? Ich kann mich nicht mehr erinnern. Und wünschte doch, ich könnte mich an jedes einzelne Wort dieses Nachmittags erinnern, dieses Nachmittags kindlicher Verschwörung und des Genusses von Wärme, gutem Essen und Wein. Vielleicht unterhielten wir uns über Bücher, aber ich glaube es nicht. Der Tag schien mir anders als alle bisherigen.
    Wir blieben weit über die Zeit hinaus, da man sich normalerweise erhoben hätte, am Tisch sitzen. Mir schwirrte der Kopf vor Möglichkeiten. Ich, der ich mir innerhalb eines Augenblicks ein ganzes Leben ausmalen konnte, träumte davon, daß Etna die Nacht im College verbringen müßte, träumte von einer Umarmung, die sie mir gestatten würde, ehe sie sich zurückzog, gar von einem Kuß, den ich ihr im dunklen Korridor rauben könnte. Ich stellte mir vor, ich schliefe im selben Gebäude wie sie und holte sie zum Frühstück ab, eine Mahlzeit, die wir noch nie gemeinsam eingenommen hatten. (Köstliche erotische Intimitäten, aber seltsam, wir sollten beinahe fünftausendmal das Frühstück zusammen einnehmen, ohne daß auch nur einmal vergleichbare Gefühle entstanden.)
    Doch als die Mahlzeit sich dem Ende näherte, als das Personal das Leinen und das Silber von den anderen Tischen entfernte und ich den schönen Nachmittag entschwinden sah (und vielleicht meinen tollkühnen Phantasien folgend, von denen, wie ich mir später vorhalten mußte, Etna nichts gewußt haben konnte und die sie gewiß nicht teilte), griff ich über den Tisch und umfaßte ihre Hand. Sie hörte mitten im Satz zu sprechen auf. Ich merkte, daß sie den Atem anhielt. Ich verschränkte meine Finger mit ihren.
    »Etna«, sagte ich. »Sie sind so wunderschön.« (Es war beglückend, die Worte laut auszusprechen. Ich hatte das bisher nicht getan.)
    »Professor«, sagte sie.
    »Sie haben versprochen, mich Nicholas zu nennen.«
    »Es sind andere Leute anwesend.«
    »Die mich beneiden«, sagte ich.
    Ihre Hand lag erstarrt in der meinen. Ich weiß nicht, ob sie versuchte, sie mir zu entziehen; vielleicht erkannte sie, daß sie das im Moment nicht tun konnte. Die stille Ruhe, die ich so oft an ihr beobachtet hatte, breitete sich um ihren Körper und auf ihren Zügen aus wie die einlaufende Flut, die den Sand unter sich tränkt. Sie begann langsam zu atmen, und die heiße Röte schwand aus ihrem Gesicht. Sie machte (Gott verzeih mir) den Eindruck eines Tiers im Wald, das absolut reglos steht, um sich unsichtbar zu machen. Sie sah mich nicht an.
    Aber an jenem Tag beschloß ich in meiner blinden Vernarrtheit, ihre Reaktion lediglich als Ausdruck weiblicher Schamhaftigkeit und Scheu zu nehmen, beides, wie ich damals fand, liebenswerte und gewinnende Eigenschaften bei einer Frau. Gleichzeitig fragte ich mich – und das war eine Frage, die mich schon seit meinem ersten Besuch im Haus ihres Onkels

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