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Alles, was er wollte: Roman (German Edition)

Alles, was er wollte: Roman (German Edition)

Titel: Alles, was er wollte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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wurde, hätte abschrecken lassen? Nein, ich glaube, ich habe mir keinerlei solche Gedanken gemacht. Jedenfalls damals nicht. Derartige Gedanken entspringen ja der Erfahrung und treten erst in der Rückschau auf, nicht in den Momenten höchsten Glücks. Nein, ich nahm mir vor, Etna Bliss zu lehren, mich zu lieben, und ich sah dieser Aufgabe mit der größten Vorfreude entgegen.
    Eben war der Schaffner hier, um mein Bett herunterzuklappen und den Wasserkrug aufzufüllen. Ich werde mich also jetzt zurückziehen. Manchmal, wenn ich schreibe, habe ich das Gefühl, daß das, was ich schildere, kein Wiedererleben ist, sondern unmittelbares Erleben selbst; daß keine Distanz besteht, weder eine zeitliche noch eine räumliche, und ich nicht weiß, wie meine Geschichte enden wird. Aber ich weiß natürlich nur zu gut, wie sie enden wird.
    In meinem Abteil (habe ich das schon geschrieben?) befinden sich die faszinierendsten Vorrichtungen für den Reisenden. Den Tisch, auf dem ich schreibe, kann man mit einer Hebelumdrehung auf die Höhe der gepolsterten Sitze hinunterlassen. Ein Polster, das hinter einer Rückenlehne versteckt ist, paßt genau zwischen die beiden Sitze und macht daraus ein Bett von ordentlichem Ausmaß, in dem ein Mann meiner Größe bequem liegen kann. Über dem Waschtisch ist ein Spiegel, der, heruntergeklappt, das Waschbecken zudeckt und in einen Nachttisch mit Wasserkrug, Glas und Leselämpchen verwandelt. Hinter der Rückenlehne gegenüber befindet sich ein Spind, in dem man ein Jackett aufhängen sowie Socken und Unterwäsche verstauen kann. Es ist alles sehr einfallsreich. Abgesehen von der Toilette, die gleich am Ende des Gangs ist, fehlt mir hier nichts. Ich habe Emersons The American Scholar mit und freue mich auf die Lektüre, bevor ich zum rhythmischen Rattern der Räder einschlafe.
    Mir geht unwillkürlich der Gedanke durch den Kopf, wie sehr einem frischverheirateten jungen Paar diese in sich geschlossene kleine Welt gefallen würde.

 
    DIES IST NUN DER ZWEITE TAG MEINER REISE nach Süden (ein Tag infolge der bereits erwähnten Entgleisung verloren), und so einiges, was ich durch die Fenster meines Abteils beobachtet habe, bedrückt mich tief. Natürlich hat jeder von hungernden Armen und obdachlosen Stadtstreichern gehört, aber es ist erschreckend, das Ausmaß der Entwürdigung und Bedürftigkeit in der Hauptstadt unseres Landes mit eigenen Augen zu sehen. In Lumpen gekleidete Männer stehen ganze Straßenzüge hinunter Schlange, um eine Schale Suppe zu ergattern; Frauen hocken mit kleinen Kindern auf den Bürgersteigen und betteln; über Kilometer erstrecken sich die Wellblechhütten längs der Gleise, und Landstreicher scharen sich um offene Feuer. Manchmal ist es einfach zuviel, und man kann nicht mehr hinsehen.
    Ich will mich weiß Gott nicht mit meinem Heimatstaat New Hampshire brüsten, aber Bettler und Obdachlose sind bei uns, wo Selbstvertrauen und Fleiß großgeschrieben werden, eine Seltenheit. Natürlich haben auch bei uns die schlechten Zeiten ihren Tribut gefordert – die gesunkenen Immatrikulationszahlen am College sind nur ein Beispiel; die Pfändung von Gerard Moxons Vermögen ein weiteres; und wenn ich es mir jetzt überlege, geht vielleicht auch der Freitod von Arthur Hallock und Horace Ward Archer auf das Konto der trostlosen wirtschaftlichen Lage –, aber wir in New Hampshire sind stolz darauf, einander zu helfen. Ich weiß nicht, wie oft meine Köchin, Mrs. O’Hara, an der Hintertür unserer Küche steht und umherziehende Bettler mit Nahrung versorgt; ich bin überzeugt, sie bäckt, um auf diese Weise helfen zu können, mehr als eigentlich nötig wäre. Ich kann es ihr nicht verargen; mein eigenes Leben ist üppig und komfortabel, und es gibt in diesem zugigen großen Haus niemanden außer mir, der versorgt werden muß.
    Doch genug der trübsinnigen Betrachtungen. Ich werde meinen Blick vom Fenster wenden und fest auf mein Schreibheft richten, ich möchte meinen Bericht nicht mit Nachrichtenbulletins aus der Zukunft verdüstern. Zu der Zeit nämlich, da meine Geschichte ihren Lauf nimmt, im Jahr 1900, wurde die Stimmung im Land, das seine ersten Schritte ins 20. Jahrhundert machte, von grenzenlosem Optimismus getragen. Nie zuvor hatten wir solchen Wohlstand erlebt, niemals eine so lange Periode des Friedens. Der Bürgerkrieg, der die Nation gespalten hatte, lag weit hinter uns, neue Entwicklungen und Erfindungen, wie zum Beispiel das Automobil und der Fernsprecher,

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