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Alles, was er wollte: Roman (German Edition)

Alles, was er wollte: Roman (German Edition)

Titel: Alles, was er wollte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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goldbraunen Augen, in denen ich so viel Wärme und Schönheit gesehen hatte, spiegelten tiefe Verzweiflung. Die Haut hatte allen Glanz verloren, und die Lippen, dieser schöne Mund, den zu küssen mich so heftig verlangte, schienen beinahe blutleer. Es war, als sähe ich Etna wie sie vielleicht in vierzig oder fünfzig Jahren sein würde: eine alte Frau, die gelernt hat, ohne Freude zu leben.
    Ich übertreibe es mit der Melodramatik? Ich wollte, es wäre so. Ich mußte mir auf die Lippen beißen, um einen Ausruf zurückzudrängen, aber wahrscheinlich entfuhr meinem Mund doch ein Laut, denn Etna zuckte zusammen und drehte sich nach mir um. Eine Sekunde lang, bevor es ihr gelang, sich zu fassen, traf mich diese Verzweiflung in ihrer ganzen Gewalt: bodenlos, schwarz und unstillbar. Obwohl sie sich zu einem Lächeln zwang und (um meinetwillen) in ihren goldbraunen Blick eine gewisse Wärme legte, obwohl sie sich die größte Mühe zu geben schien, mir wenigstens einen Funken Zuneigung zu zeigen, geriet mein inneres Glück ins Wanken und brach zusammen, und es dauerte einige Augenblicke, bevor es sich wieder hochrappeln konnte.
    Da hatte Etna schon das Zimmer durchquert.
    »Mein Mann«, sagte sie. Ich weiß nicht, ob sie diese zwei Worte mit Überlegung wählte oder nicht, aber ich fand die Wahl später genial. Bei welcher anderen Begrüßung hätte man sich mit solcher Sicherheit darauf verlassen können, daß sie gefallen würde?
    »Meine Frau«, antwortete ich, es ihr gleichtuend, obwohl ich innerlich immer noch aus dem Lot war.
    Etna legte ihre Hand auf meinen Arm. Instinktiv schloß ich meine Finger um die ihren.
    »Die Gäste kommen«, sagte ich.
    »Ich komme mit dir hinunter.«
    »Reverend Wilford hat seine Sache gut gemacht.«
    »Es war eine wunderschöne Feier.«
    »Dein Onkel scheint zufrieden zu sein.«
    »Ich mag deine Schwester. Sie ist ganz unprätentiös.«
    »Wir bleiben eine Stunde und verschwinden dann«, sagte ich.
    »Ja.« Sie hakte sich bei mir ein.
    »Etna«, sagte ich heiser – die Freude hatte wieder Fuß gefaßt und streckte vorsichtig die Glieder.
    (Ich möchte hier erklären, warum ich plötzlich mit anderer Tinte schreibe. Gleich nachdem ich diesen letzten Satz aufgezeichnet hatte, wurde mir schrecklich elend. Ich lehnte mich zurück in die Polster, um einen Moment Atem zu holen – ich dachte, ich hätte vielleicht einen Anflug von Reisekrankheit –, aber als die Übelkeit schlimmer wurde, fielen mir die Krabbenkroketten ein, die man uns einige Stunden zuvor im Speisewagen serviert hatte. Ihr Geruch war mir merkwürdig vorgekommen, und ich hatte sie eigentlich nicht nehmen wollen, aber leider hatte der Hunger über die Vernunft gesiegt.
    Sehr schnell befiel mich ein heftiger Brechreiz; ich wurde so krank, daß man den Zug in Richmond anhielt, um einen Arzt für mich zu holen. Das Zugpersonal, das eine Lebensmittelvergiftung befürchtete, obwohl es jeden Gedanken daran lauthals zurückwies, kümmerte sich mit großer Fürsorge um mich. Man gab mir ein anderes Abteil, luxuriöser als das frühere, mit Ledersitzen und einem Mahagonitisch und sogar vergoldeten Armaturen in der versteckten Badewanne, das, wie mir der Schaffner erzählte, Woodrow Wilson auf einer seiner Reisen während des Wahlkampfs um die Präsidentschaft genutzt hatte.
    Leider ging irgendwann während meiner Krankheit, vielleicht auch bei meinem Umzug in meinen rollenden Salon, mein Füllfederhalter verloren (oder er wurde gestohlen), und ich nehme jetzt einen, den mir der Schaffner geliehen hat. Der Verlust betrübt mich, Etna hat mir den Füller zu meinem vierzigsten Geburtstag geschenkt. Verrückterweise fehlt mir auch mein früheres Abteil, das irgendwie meinem Wesen entsprach und dem Bedürfnis nach Alleinsein und Erinnerung entgegenzukommen schien. Wird der Luxus meine Erzählung verändern? Doch wohl nicht.)
    Ich hatte einen Wagen gemietet, der Etna und mich nach Nordosten bringen sollte, zu einem Gasthaus in den White Mountains. Wie das im Frühjahr in New Hampshire häufig geschieht, wurde der Tag gegen Mittag merklich kühler. Etna und ich saßen nebeneinander, aber wir sprachen wenig. Kurz nach der Abfahrt fiel sie in einen tiefen Schlaf, aus dem nicht einmal das Rumpeln des Wagens durch die tiefen matschigen Furchen sie wecken konnte. Ihr Kopf sank auf meine Schulter, und ich war es ganz zufrieden, ihr während der Reise als Halt zu dienen. Ich legte den Arm um sie und stellte mir vor, sie fühle sich, auch wenn

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