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Alles, was er wollte: Roman (German Edition)

Alles, was er wollte: Roman (German Edition)

Titel: Alles, was er wollte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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war ausgetrocknet.
    »Hat der Rundgang Ihnen Spaß gemacht?« fragte er.
    »Rundgang?« wiederholte ich, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. »Was für ein Rundgang?«
    »Durch mein Haus.«
    Ich hätte gern meinen Kragen geöffnet. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen«, sagte ich.
    »Am Abend des Empfangs hier, Van Tassel. Einer meiner Angestellten hat mir berichtet, daß Sie sich mein Haus angesehen haben.«
    »Ich …«
    »Das Schwimmbecken zum Beispiel?« meinte er.
    Ich zog noch einmal mein Taschentuch heraus und wischte mir die Stirn.
    »Den Wintergarten?« fragte Ferald. »Am Abend des Empfangs.«
    »Ich – ich hatte meine Frau verloren«, stammelte ich.
    Ferald lächelte. »Ah, ja.«
    Ich zwang mich aufzustehen, mußte mich dabei aber mit den Händen auf die Tischkante stützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ich räusperte mich. »Ich nehme an, Sie wissen, daß Phillip Asher Jude ist«, sagte ich, der Mann, der seinen Trumpf ausspielt, nachdem alle anderen Spieler das Zimmer längst verlassen haben.
    Ferald schwieg einen Moment.
    »Jude«, wiederholte ich.
    Ferald betrachtete mich mit merkwürdigem Blick. »Guten Tag, Van Tassel«, sagte er.
    An die Fahrt zum College erinnere ich mich kaum. Ich stellte den Wagen auf dem Rasen ab und ging in die Chandler Hall zum Unterricht. Ich trat in den Seminarraum, in dem die Studenten schon warteten (ich hatte mich verspätet), und setzte mich mit wackligen Beinen an mein Pult. Nach einer Weile hob ich den Kopf und blickte den jungen Leuten vor mir in die erwartungsvollen Gesichter.
    Ich erkannte nicht ein einziges.
    Eine geraume Zeit saß ich in einem Zustand der Verwirrung hinter meinem Pult, während die verdutzten Studenten auf ein Wort von mir warteten. Aber mir fiel nichts ein, was ich zu ihnen hätte sagen können. Ich fragte mich, ob ich vielleicht einen Schlaganfall erlitten hatte; ob dieser peinliche Gedächtnisverlust, dieses Zittern an allen Gliedern durch den Verschluß eines Blutgefäßes ausgelöst war.
    Eine Gestalt erschien unversehens an der Tür, und ich drehte den Kopf. Es war Owen Ellington, ein jüngerer Kollege, mit einer Tasse Tee in der Hand. Auch er schien einigermaßen perplex, wenn auch auf freundliche Art.
    »Professor Van Tassel«, sagte er. »Das ist aber nett. Was kann ich für Sie tun?«
    Kann sein, daß ich ihn begrüßte. Ich stand auf und nahm meine Aktentasche. Ellington trat zur Seite, und ich ging zur Tür hinaus in den Korridor. Einen Moment lang wußte ich nicht, welche Richtung ich einschlagen sollte.
    Mit bewußt entschlossenem Schritt begab ich mich auf die Suche nach meinem Seminarraum. Ich konnte kaum an etwas anderes denken als an die demütigende Szene, die ich soeben in Feralds Haus erlebt hatte. Welche Möglichkeiten, mich zu wehren, hatte ich? Konnte ich Einspruch erheben? Doch, sagte ich mir, das konnte ich. Und ich würde es auf der Stelle tun. Ich genoß doch im Kollegium bestimmt mehr Respekt als Ferald. Und doch … und doch … Eine solche Anschuldigung an die Öffentlichkeit zu tragen konnte für mich in der Katastrophe enden. Ich lehnte mich an die Wand. Mir war völlig klar, wie eine solche Enthüllung sich auf meine Karriere auswirken würde.
    Ich fand mein Unterrichtszimmer und trat ein. Ich ging zum Pult und setzte mich. Ich sah meine unruhigen und ungeduldigen Studenten an, die sich zweifellos fragten, wie es kam, daß Professor Van Tassel seit der letzten Woche so stark gealtert war.
    Auf der Fahrt zum Baker-Haus war ich eigenartig ruhig. Mittlerweile sowohl mit dem Stevens-Duryea als auch mit der Straße vertraut, hatte ich bei meiner Ankunft in der Norfolk Street das Gefühl, die Fahrt im Nu geschafft zu haben. Aber ich hatte nicht die Absicht, ins Haus zu gehen oder mich überhaupt bemerkbar zu machen. Ich wollte an diesem Tag nur unsichtbar bleiben.
    Ich parkte auf einer Lichtung hinter einer Gruppe Eichen, die ihr Laub noch nicht abgeworfen hatten. Ich glaubte nicht, daß man mich vom Haus aus sehen könnte, da ich selbst das Gebäude nur undeutlich erkannte; und auch vor Blicken von der Straße fühlte ich mich sicher. Etna sollte auf keinen Fall wissen, daß ich hier war.
    Ein Junge auf einem Fahrrad und ein Mann mit Schirmmütze kamen vorbei, ohne mich zu bemerken. Abgesehen von diesen beiden sah ich in der Stunde, die ich hinter den Bäumen ausharrte, keinen Menschen. Erschöpft von den Ereignissen des Morgens und einer schlaflosen Nacht nickte ich offenbar eine Weile

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