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Alles was ich sage ist wahr

Alles was ich sage ist wahr

Titel: Alles was ich sage ist wahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Bjaerbo
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zu verabschieden. Ich habe heute Morgen beim Frühstück mitbekommen, wie Papa es Olle erklärt hat.
    »Wenn die Pastorin es sagt, gehen wir vier zusammen zu dem Sarg. Und dann legen wir eine Blume oder ein Bild oder was auch immer auf den Deckel und bleiben noch kurz stehen und denken an Oma und verabschieden uns in Gedanken von ihr.«
    »Darf ich auch ein Legoflugzeug auf den Deckel legen?«
    »Ja, das darfst du. Und danach setzen wir uns wieder auf unsere Plätze. Das ist nicht schwer. Ich halt die ganze Zeit deine Hand. Und es ist in Ordnung, wenn du traurig bist, das ist bei Beerdigungen so. Da dürfen alle traurig sein.«
    * * *
    Ich schlucke und schaue wieder Jesus an. Seine Stirn ist auch blutig. Von der Dornenkrone auf seinem Kopf. Die sieht ein bisschen wie ein Mittsommerkranz aus, aber mit spitzen Dornen statt bunten Blüten. Irgendwie tut er mir ziemlich leid. Hängt da vor Publikum und blutet und muss einer Beerdigung nach der anderen beiwohnen, ohne ein Ende in Sicht. Wie lustig ist das wohl? Der Arme.
    Du, Jesus?, denke ich. Wird von einem erwartet, dass man weint, wenn man vorne steht? Am Sarg?
    Jesus schaut nicht einmal hoch, aber ich deute sein Schweigen als ein Ja.
    Ein paar Tränen wären ganz kleidsam.
    Fuck.
    * * *
    »Und, wie war’s?«, fragt Fanny vorsichtig ein paar Stunden später.
    Sie sitzt im Schneidersitz auf meinem Bett und fummelt an einem meiner Kissen herum. Ich sitze neben ihr und starre vor mich hin wie ein Psychopath. In meinem Kopf ist ein Vakuum.
    »Schrecklich«, sage ich, was befreiend wahr ist. Alle Erwachsenen um mich herum haben immer wieder gesagt, was für eine schöne Beerdigung das war und wie schön es doch für Oma war, auf diese Weise zu sterben. »Sie hat ein langes und gutes Leben gehabt und wenigstens ist sie am Ende nicht krank und hilflos gewesen. Das hier war doch ein gnädiger Tod. Sie war ja schon so alt.«
    Ich hätte ihnen allen am liebsten in die Fresse gehauen. Hatten die nicht mehr alle Tassen im Schrank? Ganz im Ernst, das hab ich mich wirklich gefragt. Was ist bitte schön daran, dass Oma tot ist? Sagt es mir, ich finde es nämlich gar nicht schön. Das kratzt und juckt und brennt überall, und ich bezweifle, dass ich dem Ganzen jemals eine schöne Seite abgewinnen kann. Das wird immer furchtbar bleiben.
    Ich hasse Erwachsene.
    Oma ist weg, und ich will, dass sie wiederkommt.
    Das ist so weit entfernt von schön, wie es nur sein kann.
    »Das Ätzendste war, als Mama vorne am Sarg angefangen hat zu heulen«, sage ich leise. Ich weiß nicht genau, warum ich das erzähle, weil ich mir eigentlich vorgenommen hatte, die Erinnerung daran zu löschen, noch bevor wir aus der Kirche kamen, aber Fanny durchkreuzt alle meine Pläne in dieser Richtung. Die Worte strömen einfach aus mir heraus, ohne dass ich etwas dagegen tun kann.
    »Sie war plötzlich so schrecklich traurig.«
    Ich krieg eine Gänsehaut auf den Armen, als ich daran denke. An Mamas bebenden Körper und ihr lautes Schluchzen, das zwischen den Kirchenwänden widerhallte. Sie war schon traurig gewesen, bevor wir zum Sarg gingen, doch bis dahin hatte sie stille, diskrete Tränen geweint, die man unauffällig mit dem Taschentuch wegtupfen und vor Olle verbergen konnte. Aber das Weinen am Sarg war alles andere als diskret. Davor konnte man nicht mehr die Ohren verschließen, beim besten Willen nicht. Ich bin mir sicher, dass sie versucht hat, sich zusammenzureißen, um Olle keine Angst zu machen, aber es ging nicht. Er hatte gerade sein Legoflugzeug zwischen die Blumen gesteckt, als der erste Schluchzer kam. Seine kleine Hand in Papas großer. Mamas verzerrtes Gesicht. Olles erschrockener Blick. Mein Bedürfnis, ihn mir zu schnappen und aus der Kirche zu rennen, weg von dem Sarg, raus in die stille Oktoberkälte.
    »Mamas dürfen nicht so traurig sein«, sage ich. »Jedenfalls nicht, wenn ihre Kinder dabei zugucken.«
    Fanny sieht mich lieb an.
    »Und die Kinder?«, fragt sie vorsichtig. »Wie traurig waren die?«
    Ich zucke mit den Schultern. Wie traurig waren wir? Kommt drauf an, wie sie das meint. Wie misst man Traurigkeit? An der Anzahl der Tränen?
    »Olle fand am schlimmsten, dass Mama so geweint hat. Ich glaube, er hatte das mit der Beerdigung noch nicht so richtig verstanden. Sobald wir aus der Kirche raus waren, hat er angefangen zu spielen und zu toben wie üblich.«
    »Schön für ihn.«
    »Ja.«
    »Und du?«
    Ich seufze entnervt und lege mich mit dem Kopf auf Fannys Schoß aufs

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