Alles - worum es geht (German Edition)
nicht fremd. Meine kleine Schwester Therese ist die dunkelste und sieht aus wie eine Türkin, aber gleichzeitig ist sie schön und sieht aus wie ein Engel, weswegen zu ihr niemand etwas sagt. Ich bin die zweitdunkelste und mit meinen kurz geschnittenen Haaren und dem Namen halten mich viele für einen Jungen, und vielleicht rufen sie deshalb gerade mir Fremdarbeiter hinterher. Ich rufe immer zurück, dass ich Weltbürger bin, falls sie wissen, was das ist! Aber einmal, als ich das getan habe, da hat mich mein Vater gehört, und da hat er mir eine runtergehauen und mich angefaucht:
»Du bist Dänin!« Er riss an meinem Arm, dass er mir fast die Schulter ausrenkte. »Vergiss das nie, du bist Dänin, und das sollst du ihnen sagen!«
Ich war kurz davor zurückzufauchen, das könne er denen selbst sagen, aber ich war mir nicht ganz sicher, was er dann mit meinem Arm tun würde. Er selbst konnte das nämlich nicht sagen, das wusste ich, schließlich spricht er Dänisch mit einem starken Akzent, der noch schlimmer und unverständlicher klingt als der meiner Mutter.
Ich erzählte ihm auch nicht, dass sie manches Mal stattdessen auch Deutschenflittchen riefen.
Von da an sagte ich nichts, wenn die Leute mir Fremdarbeiterin hinterherriefen. Ein schöneres Wort dafür ist Gastarbeiter. Das ist man allerdings nicht, wenn man hier geboren ist, deshalb ist das total lächerlich, aber das wollen die Leute gar nicht wissen.
Was geht mich das an, ob eine Anemone eine Anemone ist oder eine Butterblume, solange ich weiß, wo sie wächst, und ich hingehen und sie ansehen und pflücken kann, wenn ich dazu Lust haben sollte, was ich aber nie habe. Denn die kann doch wohl einfach so dastehen und eine rote Blume sein, ganz wie sie Lust hat, oder?
Jetzt bin ich fünfzehn, und wir haben 1979, und trotzdem kann doch mal was schiefgehen!
Das versuche ich dem Rektor zu erklären, der nach meinem Dänischlehrer das Wort ergriffen hat, aber er ist etwas skeptisch.
»Michaela«, sagt er.
»Mic!«, korrigiere ich, auch wenn ich mir die kurzen Haare längst wieder wachsen lasse, weil sie sowieso keinen mehr täuschen können, denn dafür sehe ich inzwischen zu sehr nach einem Mädchen aus.
»Mic …«, versucht er, sicher um freundlich zu sein. »Was sollte das?«
Ich presse die Lippen zusammen und starre auf meine Schuhe.
»Die Verwüstung im Garten, die Tiere … die Schilder?«
»Das war ein Unglück, habe ich doch gesagt. Das war keine Absicht.«
»Die Käfige öffnen sich wohl kaum von selbst. Die Blumen und die Mohrrüben ziehen sich nicht von selbst aus der Erde. Die Äste der Bäume werden nicht aus Versehen abgesägt. Ihr müsst doch Stunden …«
Ich denke darüber nach und fühle mich für einen Moment geschmeichelt; ich brauchte dafür gerade mal fünfundvierzig Minuten.
»Was sollte das? Die anderen Schüler haben sich über den Garten gefreut. Er gehört euch allen gemeinsam, er gehörte auch dir. Du hast selbst dazu beigetragen, ihn anzulegen. Weil ihr die vorletzte Klasse seid, habt ihr die Zwergziegen, aber sogar die habt ihr freigelassen. Sie haben etwas Stahldraht gefressen, zusammen mit den Blumen, die ihr mit den Wurzeln ausgerissen habt, sodass beide Koliken bekamen und in die Tierklinik gebracht werden mussten, als wir sie heute Morgen fanden. Die eine musste eingeschläfert werden.«
Aphrodite oder Julius , möchte ich gern fragen, lasse es aber. Die Zwergziegen waren nicht meine, auch wenn ich beim Aussuchen dabei gewesen bin. Sie waren …
Der Rektor redet immer weiter; von den Tieren, die weg sind, und der seltenen Weißkehlammer und der leeren Voliere, von den verschwundenen Schildern und wie viel zerstört ist und welche Strafe angemessen wäre.
»Die Mohrrüben waren fast reif, die Kaninchen hatten Junge …«
Ich höre nicht richtig zu. Ich denke an die tote Zwergziege und wünschte, das wäre ich. Solche wie mich sollte man einschläfern, ehe sie hierherkommen, denke ich. Ich denke an die Kaninchen, von denen niemand weiß, wo sie nun sind, und ich weiß genau, dass sie bestimmt vom Fuchs gefressen oder von dicken Hauskatzen zum Spaß getötet werden oder einfach eingehen, weil sie nicht wissen, wie sie im Freien überleben sollen. Ich denke daran, wie viele Jahre der kleine Apfelbaum gebraucht hat, um so groß zu werden, dass unreife kleine Äpfel an den Zweigen hingen, die ich abgesägt habe. Und irgendwo im Bauch tut es mir weh, aber ich weiß nicht, warum, denn das war irgendwie ein Missgeschick,
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