Allmen und der rosa Diamant
gleiche Meer, einfach etwas weiter nördlich.«
So verschlossen und eigenbrötlerisch ihm Sokolow aus der Entfernung vorgekommen war, so offen und direkt zeigte er sich aus der Nähe. Er erzählte ihm von den Jugendzeltlagern in der Umgebung von Tallinn und von dem militärischen Drill, der dort herrschte. Allmen steuerte ein paar Geschichten vom Charterhouse bei, dem exklusiven Internat seiner Jugend, das er seinerseits etwas militaristischer ausschmückte, als es gewesen war.
Als sie zum Speisesaal gingen, war der Mann, der dem Schauspieler glich, noch immer mit seinem Begleiter in ein Gespräch vertieft. Am Tisch bemerkte Sokolow: »Haben Sie den Amerikaner gesehen? Sah aus wie Martin Sheen.«
Zur Vorspeise hatten sie Aal bestellt, nichts Außergewöhnliches für die Gegend. Aber die Zubereitung war überraschend: Er war nach einem Rezept aus der Camargue in einer Rotweinsauce glasiert. Als Allmen das Gericht lobte, überraschte ihn Sokolow wieder mit seiner Offenheit:
»Ich verstehe nichts vom Essen. Ich habe bisher immer nur gegessen, um etwas im Magen zu haben. Ich muss das noch lernen.«
»Sie wollen sagen«, fragte Allmen ungläubig, »es ist Ihnen egal, was Sie essen?«
»Nun, nicht gerade egal. Aber nicht so wichtig.«
»Vielleicht haben Sie recht«, räumte Allmen ohne Überzeugung ein, »vielleicht misst man dem Essen zu viel Bedeutung bei.« Er trank einen Schluck Wein. »Und wie halten Sie es mit dem Wein? Auch egal?«
»Auch nicht so wichtig. Ich bin Wodkatrinker. Wodka trinkt man nicht aus kulinarischen Gründen.« Er setzte das Rotweinglas an, behielt den Schluck lange im Mund und versuchte, ihm etwas abzugewinnen. »Wie gesagt, ich muss noch viel lernen. Eigentlich alles: Essen, Trinken, Anziehen, Reisen, Wohnen, Geschmack. Kurz: Reichsein.«
Allmen suchte noch nach einer passenden Antwort, als Sokolow hinzufügte: »Das kann jemand wie Sie, dem es in die Wiege gelegt wurde, natürlich nicht verstehen.«
Allmen widersprach nicht. »Keine Angst, da kommen Sie schnell dahinter. Eine wichtige Voraussetzung scheinen Sie ja mitzubringen.«
»Welche meinen Sie?«
»Geld. Mit Geld fällt einem das Reichsein leichter.«
Sokolow lachte. Er ahnte nicht, wie viel Wahrheit für Allmen in diesem Satz steckte. »Ich bin noch im Versuchsstadium. Auch das Geld ist erst ein Vorgeschmack.«
Sie verbrachten einen angenehmen, entspannten und zunehmend lustigen Abend. Sie waren die letzten Gäste im Speisesaal und auch die Einzigen, die sich auf der Terrasse der Bar noch einen und dann noch einen Absacker genehmigten.
Mit gedämpfter Stimme unterhielten sie sich und legten immer wieder lange Pausen ein. Sahen aufs Meer hinaus. Auf die Laternenallee der Promenade. In den glitzernden Sommernachtshimmel. Auf die fluoreszierenden Gischtränder der behutsamen Wellen.
Es war weit nach Mitternacht, als sie endlich die Terrasse verließen und der Mann, der sie von einem Balkon aus beobachtet hatte, seinen Feldstecher sinken ließ und ein paar Worte in ein Ansteckmikrophon sprach.
Vor Sokolows Zimmer fragte Allmen: »Wie lange haben Sie vor zu bleiben?«
»Weiß nicht. Solange ich Lust habe.«
»Na sehen Sie, das klappt doch schon ganz gut mit dem Reichsein.«
9
Allmen duschte, putzte die Zähne und zog einen frischen Pyjama an. Aber als er ins Schlafzimmer ging, wurde ihm klar, dass er nicht schlafen konnte. Zu viele Gedanken tummelten sich in seinem Kopf.
Weshalb war der Amerikaner aus dem Viennois hier? Gab es eine Verbindung zwischen ihm und Sokolow? Handelte es sich um einen der Amerikaner, die im Apartmenthaus, in der Immobilienfirma, im Lonely Nights und beim Betreiber des Servers aufgetaucht waren?
Aber weshalb war er dann im Viennois? Gab es eine Verbindung zwischen dem Amerikaner und ihm, Allmen?
Überwachte er ihn?
Allmen tat etwas, was er nach so viel Alkohol sonst nie tat: Er rundete den Abend mit einem allerletzten Bier ab. Er holte ein Pils aus der Minibar, schenkte ein Glas voll und setzte sich damit in einen der Polstersessel am Fenster.
Angenommen, Montgomery ließ ihn überwachen. Tat er es zu seinem Schutz? Tat er es, um sich abzusichern?
Dass die Leute für Montgomery arbeiteten, schien ihm immer wahrscheinlicher. Das würde auch erklären, warum er nicht darauf bestanden hatte, Sokolows Aufenthaltsort zu erfahren. Er kannte ihn schon.
Und was war mit Sokolow? Sein Leben als vermögender Mann befinde sich erst im Versuchsstadium, hatte er gesagt. Auch das Geld sei erst ein
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