Alpendoener
Treppe für
jede Tüte Milch, die sie einkaufte, hinaufschleppen? Der hatte er den Schrank
hinaufgeschleppt. Ob für sie an dieser Wohnung irgendeine Erinnerung hing? An
ihren Mann? An die schönen Jahre?
Dort, hinter dieser stummen Tür, hatte es sich ereignet, dort
war das alte Blut geflossen nach den Stichen.
Die Tür war versiegelt. Birne interessierte das, er ging
vorsichtig hin, leise, als ob jemand im Treppenhaus lauschte, wie der Mörder
zum Tatort zurückkehrte. Aber der saß ja praktisch schon, wenn jener Bruno
keine Sprüche gemacht hatte. Das konnte auch sein. Birne fragte sich, ob er
morgen wieder seine Zeitung haben würde, ohne früh aufstehen zu müssen und
damit den kleinen, seinen Fall, auch gelöst hätte.
Der Tür war nichts anzusehen von dem Verbrechen und auch
nicht, dass die Polizei dahinter Spuren festmachte. Ob sie schon fertig waren?
Birne wagte kaum zu atmen. Fingerabdrücke sollte er besser keine hinterlassen,
aber was war mit DNA-Spuren seines Atems? Er schüttelte seinen Körper, als
hätte ihn eine Kältewelle gepackt und lief dann zügig und laut nach oben zu
seiner Wohnung, schloss krachend seine Tür auf und war dann daheim. Viertel
nach 11 – konnte jetzt auch jedes wache Ohr in diesem Haus bezeugen, falls es
noch mal zu einer Befragung kommen sollte.
4. Tag
Wenn man eines sicher am nächsten Tag früh
festhalten konnte, dann war es das, dass Werner die Sauferei am Stammtisch
nicht gut vertragen hatte. Er kam spät, hatte einen sagenhaft roten Kopf auf
und sagte oft leise und manchmal auch lauter »Scheiße« – ohne Grund und bei
Kleinigkeiten.
Birne hielt einen Sicherheitsabstand. Was sollten sie reden?
Er wusste doch, wie das war. Wenn man schon nicht liegen bleiben konnte, dann
sollte man wenigstens seine Ruhe haben. Das sollte man einfordern dürfen in
diesem Land, in diesem Jahrhundert. Wenn das mehr Menschen berücksichtigen
würden – in diesem Land, in diesem Jahrhundert – dann hätte vielleicht die arme
Frau Zulauf nicht sterben müssen und noch ein bisschen ihre Freude an dem Schrank
und dem Enkel. Nur so eine Idee Birnes .
Die Mittagszeit nahte. Birne fragte ohne Erwartung. Werner
winkte nur ab, war schlecht gelaunt. »Brauch heut nichts, brauch nicht jeden
Tag was. Scheiße.«
»Hab ich mir schon gedacht.« Birne ging zurück an seinen Platz,
hätte jetzt Tim fragen müssen, hatte überhaupt keine Lust, mit dem zu essen.
Tim kam. »Hast du Lust, was zu essen? Der Werner will nicht,
hab ihn gerade gefragt. Aber was ist mit dir? Wir können auch mal woanders hin.
Wie wär’s mit asiatisch? Magst du asiatisch? Der Werner nicht. Aber du –
du bist jünger. Wir könnten asiatisch. Ich weiß was. Nicht weit.«
»Du danke, du, ich steck hier in was fest, kann gut sein,
dass ich heute gar nicht gehe.« Birne schaute konzentriert auf seinen
Bildschirm.
»Ich könnte ein Weilchen warten, es hat noch Zeit.«
»Ich denk, es wird eher nichts bei mir, geh nur.«
Tim war verdammt schwer abzuschütteln. Als es endlich
geschafft war, wartete Birne noch vier Minuten, lief einen kleinen Gang an
allen Arbeitsplätzen vorbei, um sicher zu sein, dass sein Mittagskollege
wirklich weg war, und machte sich dann selbst auf den Weg zum Essen, nicht zum Korbinian – die hatten in letzter Zeit genug Geld von ihm
bekommen – nein, einfach mal laufen und schauen, was der Magen meint.
*
»Wir können auch ganz anders verhandeln, wenn
Sie mir drohen wollen, Frau Kemal. Wer will denn hier was von wem, ha?«
Die Frau im Stuhl vor ihm schluchzte. Wem gegenüber sollte er
jetzt noch behaupten, er liebe seine Arbeit? Er wollte nicht so sein, er musste
es. Die Umstände.
»Na na , jetzt beruhigen
Sie sich doch, Frau Kemal. Wenn wir uns jetzt aufregen, helfen wir Ihrem Mann
doch auch nicht, der kriegt das nicht mal mit in seiner Zelle.«
Die Frau schrie auf.
»Herrgott noch mal, so beruhigen Sie sich doch.«
Jetzt sie: »Sie sind doch alle total ausländerfeindlich hier.
Wir haben nie jemandem was getan, nur weil wir Türken sind.«
Sie hatte ihr schwarzes Haar hinter ihrem runden Kopf
zusammengebunden. Bruno fragte sich, ob das Gesicht mal hübsch gewesen war, er
meinte schon, wollte es sich aber nicht vorstellen. Die Backen waren dick, die
Augen zu tief in ihren Höhlen, aus denen sie beinahe bösartig funkelten. Ein
leichter Flaum zeichnete sich um das vielleicht 40-jährige Kinn ab, auf dem
eine kleine
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