Alphawolf
Er war nur noch eine Masse, die den Jungen, der er mal gewesen war, nur noch erahnen ließ.
Claw fasste ihr Kinn und zwang Tala hinzusehen. «Schau hin, damit du es glaubst.»
«Ich will das nicht sehen!» Sie riss ihr Kinn los.
Aber Claw vergrub seine Hand in ihren Haaren und fixierte ihren Kopf. «Er mag es, die Gestalt zu wechseln. Er liebt es, ein Wolf zu sein.»
Tala wollte ihre Augen schließen, aber sie konnte es einfach nicht.
Stück für Stück schob sich sein Mund unter schrecklichen Konvulsionen nach vorne, bis er wie eine blanke Schnauze aussah. Dann begannen auch dort Haare zu wachsen. Seine Ohren wurden spitzer, sein Kopf wölfischer und sein Fell dichter. Mittlerweile waren die Schüttelkrämpfe nicht mehr so intensiv, die Wandlung ging geschmeidiger vonstatten.
Tala vermutete, dass Rufus bereits das Gröbste hinter sich gebracht hatte. Was auch immer im Inneren seines Körpers vorging, sie wollte es sich nicht vorstellen. In diesem Stadium, in dem Rufus halb Wolf und halb Mensch war, erinnerte er Tala auf erschreckende Weise an die Kreatur, die sie aus dem Alaska Native Medical Center hatte flüchten sehen. An das Wesen namens Dante.
Claw gab ihre Haare frei und schlang seinen Arm von hinten um ihren Hals. «Rufus hat sich nur so gequält, weil er sich schämt, sich vor dir zu verwandeln. Er mag dich mehr, als mir lieb ist.»
Die Veränderung vollzog sich nun rascher. In rasender Geschwindigkeit fand Rufus in seine Wolfsgestalt und stand schon bald neben dem Sessel, als wäre er schon immer ein Tier gewesen. Erwartungsvoll guckte er sie an. Seine Zunge hing aus dem Maul und er hatte die Ohren gespitzt.
Tala war übel, nicht weil sie sich ekelte, sondern weil das, was sie gerade beobachtet hatte, ihre Vorstellungskraft überstieg. Ihre Welt bröckelte. Sie würde nie wieder dieselbe sein. Alles, was sie meinte zu wissen, löste sich in Schall und Rauch auf.
«Glaubst du nun endlich?», fragte Claw.
Stumm nickte Tala. Worte konnten nicht ausdrücken, was sie in diesem Moment empfand. Ihre Augen waren feucht. Ihr Puls raste. Ihre Wangen fühlten sich fiebrig an und ihr tat der Nacken weh, da sie sehr angespannt war. Gerade hatte sie es mit eigenen Augen gesehen. Die Wölfe, die ihr bisher durch ihre indianischen Wurzeln und ihren Job bei Wild Protection vertraut gewesen waren, sah sie nun in einem anderen Licht. Sie waren ihr fremder geworden und gleichzeitig hatte sie viel über sie gelernt. Die wenigsten Wölfe waren Werwölfe, aber es war möglich, dass nichts so war, wie es auf den ersten Blick erschien.
Wie sollte sie reagieren? Die Welt hatte sich verändert, sie selbst hatte sich verändert. Das Leben würde nie wieder so sein, wie es noch vor zwei Tagen gewesen war. Die Werwölfe aus den Büchern und Filmen waren in die Wirklichkeit getreten. Es war ein großer Unterschied, nur über sie zu lesen, als tatsächlich mit ihnen zu leben.
«Berühr ihn, damit du nicht meinst zu träumen», wies Claw sie an und schob sie in die Richtung des Rotwolfes. Alles, was er sagte, klang wie ein Befehl, egal wie höflich er es formulierte. Offensichtlich war er gewohnt, dass man ihm folgte. Dann zeigte er auf Rufus. Seine Stimme klang mit einem Mal heiser, bedrohlicher. «Und du, genieße es nicht zu sehr!»
Tala zögerte.
Sie fühlte sich zu dem Rotwolf hingezogen, da sie sich seiner am Vortag angenommen hatte. Er war ein hübscher kleiner Kerl, deutlich kleiner als andere Unterrassen, beinahe fragil wirkend, mit wunderschönem zimtrotem Fell, wie es in seiner Intensität selten vorkam. Sein Maul war schmaler und seine Ohren proportional größer als bei anderen Wölfen, was ihm ein putziges und harmloses Aussehen verlieh. Und Rufus hatte Recht gehabt, das Feuermal war unsichtbar geworden.
Aber Tala verspürte eine Barriere in ihrem Inneren. Normalerweise wusste sie, was sie vor sich hatte. Das war jedoch das erste Mal, dass sie nicht definieren konnte, mit wem sie es zu tun hatte: Wolf oder Mensch? Was war Rufus? War er nicht beides?
Ein Werwolf, so unglaublich, wie das klang.
Finde dich damit ab, sagte sie zu sich. Sie sah sich mit einer neuen Spezies konfrontiert. Nein, korrigierte sie sich, bei einem Werwolf handelte es sich nicht um eine neue Art, sondern er hatte vermutlich bereits seit einer Ewigkeit im Verborgenen existiert. Nur ihre eigene Kenntnis über seine Existenz war neu. Außerdem waren alle Werwölfe einst Menschen gewesen, soviel sie wusste. Aber was wusste sie schon?
Claw
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