Alphawolf
Dinge tat. Was konnte man von einem Werwolf erwarten? Nichts, wenn man keine Gestaltwandlerin war.
Was lief da zwischen ihnen? War da überhaupt etwas?
Sie hatte gerade ihre Hand ausgestreckt, um die Wohnungstür zu öffnen, als ihr Handy klingelte. Zuerst erschrak Tala. Einige Sekunden lang verharrte sie in ihrer Bewegung. Dann riss sie ihr Mobiltelefon aus der Innentasche ihres Parkas und flüsterte: «Hallo?»
Tala blickte zum Schlafzimmer. Claw war nicht aus dem Bett gesprungen, aber sein Schnarchen war verstummt.
«Habe ich dich geweckt?» Es war Onawa.
So leise wie möglich öffnete Tala die Wohnungstür, huschte in den Flur hinaus und schloss sie wieder hinter sich. «Nein, ich bin schon wach.»
«Aber nicht alleine.»
Ihre Granny war nicht dumm. Wieso sollte Tala flüstern, wenn sie allein daheim gewesen wäre. «Jetzt schon.» Sie rannte die Treppenstufen hinab.
Onawa trank einen Schluck, vermutlich Tee, sie trank nur Wasser und Tee. «Du warst bei diesem Mann, nicht wahr, bei dem mit der Wildheit in den Augen?»
Der nicht zu zähmen war. Grannys Mahnung brannte auf Talas Seele. Sie schlüpfte aus der Haustür und zog den Parka enger um ihren Körper, denn die Morgenluft war empfindlich kalt. «Du willst mich vor ihm warnen. Er könnte mir gefährlich werden.»
«Erwarte nur nicht zu viel. Männer wie er brauchen viel Freiheit, wie ein Wolf, der rennen muss, um glücklich zu sein.»
«Wie kommst du jetzt auf Wölfe?» Zitternd vor Kälte schaute Tala auf ihr Handydisplay. Es war kurz vor sechs. Eine dünne Schicht Neuschnee bedeckte ihren Wagen. Sie musste heimfahren und duschen. Um neun Uhr wollte sie sich mit Walter im Diner treffen, um bei Hazels berühmten Haselnuss-Kaffee die Planung für den Tag zu besprechen.
Sie hörte, wie Onawa in ihre Tasse blies. «Weil unser Familientotem der Wolf ist. Du brauchst auch deine Freiheiten, sonst wärst du nicht nach Anchorage gezogen, weg von deiner Familie und deinem Stamm.»
Wenn sie ebenso freiheitsliebend war wie Claw, bedeutete das nicht, dass sie eigentlich ganz gut zusammenpassten, weil sie dieselben Bedürfnisse hatten und daher Rücksicht nehmen würden? Tala stieg in ihr Auto ein, schaltete die Heizung an und betätigte die Scheibenwischanlage. Glücklicherweise waren die Scheiben nicht vereist.
Mit einer unerschütterlichen Gewissheit in der Stimme fügte Onawa hinzu: «Aber eines Tages wirst du zurückkehren. Deshalb rufe ich allerdings nicht an.»
«Ist etwas passiert?» Tala rieb ihre Handflächen aneinander und hielt sie an das Gebläse der Heizung. Erst als ihre Hände warm waren, zog sie ihre Handschuhe an. Sie steckte den Schlüssel ins Zündschloss und startete.
«Unser Schamane ist verschwunden.»
Vor Schreck würgte Tala ihren Wagen ab.
Ihre Granny stellte ihre Tasse so geräuschvoll ab, dass Tala es durch die Leitung hören konnte. Dann sprudelten Onawas Ängste und Entsetzen aus ihr heraus: «Chankoowashtay ist das Herz unseres Stammes und ein guter Mann. Niemals würde er einfach so verschwinden, ohne irgendjemandem Bescheid zu geben. Das sieht ihm nicht ähnlich, das verbieten ihm seine gute Erziehung und sein besonderer Stand innerhalb des Stammes. Aber er ist wie vom Erdboden verschluckt. Als deine Tante Adsila ihn wegen eines Problems aufsuchen wollte, bemerkt sie, dass er fort ist. Seine Tür stand offen und sein Haus war leer. Es ist, als wäre er einfach aus seinem Dasein herausgepflückt worden, wie eine reife Beere, die süßeste von allen.»
In Talas Eingeweiden regte sich etwas. Sie konnte es noch nicht deuten, aber ihr Magen war mit einem Mal so nervös, dass ihr leicht übel war. Erfolglos versuchte sie das Gefühl in ihr zu deuten, aber sie bekam es nicht vollkommen zu greifen, sondern nur einen Zipfel davon. Wieso fiel ihr ausgerechnet jetzt der Handwerker ein, der in jedem zweiten Satz geflucht hatte? Was hatte er gesagt?
Ihre Granny wirkte ungeduldig, weil Tala schwieg. «Ich möchte dich einfach bitten, Augen und Ohren offen zu halten. Vielleicht weiß man in Anchorage etwas. Du kommst doch viel rum.»
Erinnere dich, sprach Tala zu sich selbst. Er hatte das Education Center der Tierschutzorganisation Wolf Song of Alaska verbarrikadiert, weil jemand – oder etwas – dort gewütet hatte, sich über seinen krank gewordenen Kollegen beschwert und seine Vorurteile gegenüber Indianern kundgetan.
Plötzlich wusste Tala es wieder. «Ich habe gehört, dass Mitglieder der Yup’ik und Cup’ik verschwunden
Weitere Kostenlose Bücher