Alptraum-Sommer
hoch, der obere Rand reichte uns bis zum Gürtel. Vom Tor her führte ein schmaler Weg auf ein kleines Haus zu, dessen Fassade von fettig wirkenden Pflanzen und Blättern überwuchert war, daß nur mehr Lücken für die Fenster freiblieben.
Ein altes Auto parkte neben dem Haus, und seine Tür schwang plötzlich auf. Wir sahen zwei in Turnschuhen steckende Füße, nackte Beine, dann einen Körper, der zu einem Jungen gehörte. Er trug eine Jeans und ein rotes T-Shirt.
Der Junge hatte uns gesehen. Mit schnellen Schritten lief er auf das Tor zu. »Hi«, sagte er ein wenig atemlos und strahlte uns aus blauen Augen an. »Wollt ihr zu meinem Großvater?«
»Vielleicht.«
»Er ist zu Hause.«
»Okay, und wie heißt du?«
»Ich bin Kelly.«
»Ein toller Name«, lobte Suko.
»Klar.« Kelly strich durch sein braunes Haar. Es war modern geschnitten, an den Seiten kurz, das Deckhaar länger. »Ich bin auch toll, und ich werde bald meine Prinzessin finden.«
»Tatsächlich?« staunten wir.
»Ja.« Er nickte einige Male. »Sie wohnt hier. Das weiß ich genau. Ich muß nur eben hin.«
»Wer hat dir das denn gesagt?«
»Ich habe sie gehört.«
»Wo?«
»In der Nacht.«
»Okay, mein Junge, dann wünsche ich dir viel Glück«, sagte ich lächelnd, bevor ich mich nach seinem Großvater erkundigte.
»Ja, er ist da. Grandpa sitzt in seiner Werkstatt und schnitzt. Er hat wieder Nachschub bekommen.«
»Was ist mit deinen Eltern?« fragte Suko.
»Die sind für einige Wochen verreist. Nach Rußland.« Stolz schimmerte in Kellys Augen. »Da muß mein Vater nämlich arbeiten. Er ist Ingenieur in einem Atomkraftwerk und sorgt dafür, daß alles sicher wird.«
»Das ist auch nötig«, bestätigte Suko.
Ich hatte eine andere Frage. »Was schnitzt denn dein Großvater? Und was bedeutet der Nachschub?«
»Er hat ihn aus dem Wald geholt. Wurzeln. Richtige Klötze. Daraus macht er dann die kleinen Männchen. Kennt ihr die Galgenmännchen, die Erdmännchen oder die Wichtel?«
Nicht nur bei mir schlug eine Alarmglocke an. Suko erging es ebenso, und er schaute mich mit einem Blick an, der eigentlich alles sagte.
»He, warum antwortet ihr nicht?« Kelly stützte sich auf den oberen Torrand und sprang hin und her. »Habe ich euch erschreckt? Glaubt ihr, daß ich ein Märchen erzählt habe?«
»Vielleicht.«
»Es gibt sie. Sie sind toll. Wir lieben sie alle hier. Alle, die hier wohnen.«
»Und dein Großvater stellt sie her?« erkundigte ich mich noch einmal.
»Ja, er ist der beste. Er sagt immer, daß es keine so guten Wächter gibt wie sie. Sie bringen uns Glück, auch meinen Eltern, die immer viel unterwegs sind. Großvater sagt auch, daß dies ein besonderer Ort ist, ein auserwählter. Habt ihr noch nicht bemerkt, wie toll die Blumen riechen? In diesem frühen Sommer ist das super. Es wird hier alles anders werden.«
»Sagt das auch dein Großvater?«
»Ja.«
»Dann werden wir mit ihm sprechen.«
»Gern.« Der Junge öffnete das Tor. »Soll ich ihm sagen, daß Besuch da ist?« Er wollte schon loslaufen, doch ich schnappte mir seinen Arm.
»Nein, wir werden ihn finden.«
»Gut, ich muß nämlich einkaufen.«
»Gehst du nicht in die Schule?« fragte Suko.
»Nein.«
»Das ist aber komisch«, sagte Suko.
»Warum? Ich brauche das nicht.«
»Bist du so gut?«
»Weiß ich nicht. Ich kann aber alles, glaubt mir.« Er lachte und drängte sich an uns vorbei.
»Wieso kannst du alles?« rief ich ihm nach.
Nach drei Schritten drehte er sich herum. Ein Schatten huschte über sein Gesicht und veränderte es für einen winzigen Moment. Ich hatte den Eindruck, nicht mehr in ein normales Gesicht zu schauen, sondern in eine rindenartige Fratze.
Quatsch, jetzt bildete ich mir schon etwas ein.
»Ich bekomme noch eine Antwort von dir!«
Kelly lachte kindhell auf. Er warf die Arme hoch, als wollte er den hellen, seidigen Himmel berühren. »Ganz einfach, Mister, weil ich über hundert Jahre alt bin…«
Dann rannte er weg!
***
Ich stand da und hatte das Gefühl, in einem kalten Keller zu stehen, nur nicht mehr in der Hitze. Sehr langsam hob ich die Hand und strich über das Nackenhaar.
»Hast du das gehört, Suko?«
»Ich bin nicht taub.«
»Und was sagst du dazu?«
Er räusperte sich. »Ich kenne den Jungen nicht, ich kann ihn nicht einschätzen. Er könnte ein Aufschneider sein, braucht es aber nicht. Wo es Riesenspinnen gibt, können auch Kinder existieren, die hundert Jahre und älter sind. Oder etwa nicht?« fragte er
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