Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman
auf Jacquelines Schoß: 1953. Wenn sie jetzt behauptet hätte, ihr wäre ausgerechnet dieses Fotoalbum zufällig in die Hände gefallen, so stimmte das nicht. Nein, Jacqueline hatte absichtlich genau dieses ausgewählt. Es war die Zeit, in der Nane noch mit ihr in Montrie lebte. Mit anderen Worten, Jacqueline suchte sich selbst auf den Seiten des Albums, das allmählich auseinanderfiel. Seitenweise Fotos von Nane, die Simone Signoret in Die Schenke zum Vollmond ähnelte, wenn man von Nanes pechschwarzer Mähne absah. Kein einziges Foto von Jacqueline. Nanehatte es vorgezogen, Fotos von den verqualmten Festen aufzubewahren, auf die sie ständig ging; von Pariser Bistrotischen, ab und zu von Hochzeiten der High Society wie diese, deren Fotos man auf zwei Seiten betrachten konnte ... Und als Jacqueline sich eines der Fotos genauer anschaute, blieb ihr beinahe das Herz stehen. Im Vordergrund stand die schöne Nane, die sich bei einem ihrer Verehrer eingehakt hatte, einem braun gebrannten, sportlichen Mann im Anzug und mit Zigarette. Doch Jacqueline interessierte sich mehr für das, was im Hintergrund zu sehen war. Es war ein junger, in Schwarz gekleideter Mann, der der Kamera den Rücken zuwandte. Sie sah nur einen winzigen Teil seines Profils, aber sie wusste, wer es war. Er war es! Es bestand nicht der geringste Zweifel. Dieses Profil und diese Kopfhaltung – Jacqueline hätte ihn unter Tausenden wiedererkannt. Ja, es gab keinen Zweifel, dass er an diesem Tag bei dieser Hochzeit war. Er war es. Der Mann, der ihr seit sechsundfünfzig Jahren den Schlaf raubte.
War sie sich dessen bewusst, dass sie das Bild aus dem Album herauslöste und es mit zitternder Hand in die Jackentasche steckte? Jacqueline stellte das Fotoalbum zurück ins Regal, sortierte hastig ihre Unterlagen und flüchtete ins Gartenhaus. Den kleinen Matthis, der unter dem Fenster mit einem Marienkäfer spielte und dem nichts entgangen war, sah sie nicht.
13
Rings um unseren Sommerflieder im Garten der Villa Jolie Fleur vergingen die Tage so, wie sie sein sollten. Nektar gab es im Überfluss; Matthis hatte keinen Kescher, um uns zu fangen, und aus den ersten Eiern unserer Cousinen waren die Larven geschlüpft. Viele Wesen meines Alters beschäftigten sich mit dem anderen Geschlecht, das sie völlig um den Verstand brachte. Es gab Glückspilze, die selig und zerzaust von ihren Hochzeitstänzen zurückkehrten. Es gab aber auch die anderen, die ihre Enttäuschung im Schutze der Blüten verbargen. Und dann gab es noch mich, und man kann sagen, dass ich zur zweiten Kategorie gehörte. Doch ich hatte es nicht eilig. Und zudem hatte ich meine Herzdame bereits gefunden. Ich gebe zu, dass ich es vorzog, auf der Suche nach neuen Geschichten um Jacqueline herumzuflattern. Das war mir lieber, als nervösen Damen den Hof zu machen, deren biologische Uhr tickte.
Außerdem hatte ich heimliche Verabredungen. Nein, nicht mit Jacqueline, die – das entging mir nicht – meineExistenz vollkommen ignorierte, obwohl ich immer wieder Annäherungsversuche machte. Ich traf mich mit Apeliotes, dem Südostwind. Apeliotes, dieser einsame Träumer, sprach wenig. Ein alter Maikäfer vertraute mir eines Abends an, dass Apeliotes früher gesprächiger war. Die Geschichten, die er erzählte, waren so unverständlich, dass ihm schließlich niemand mehr zuhörte. Eines Tages verkündete er sogar, die Welt sei viel größer, als es alle Admirale, Taubenschwänzchen und Monarchfalter behaupteten. Er hatte alle Schmetterlinge gegen sich aufgebracht, denn niemand – wirklich niemand – kritisierte den Monarchfalter, der in der Welt der Schmetterlinge das ist, was Odysseus in der Welt der Menschen ist. Und von da an verfiel Apeliotes in Schweigen.
Ich hingegen schloss mich Apeliotes gleich in meinen ersten Lebenstagen an. Er ermöglichte es mir, jenseits der kleinen Wege und des hohen Grases das Meer zu entdecken. Wenn Apeliotes sprach, und das tat er nur, wenn wir allein waren, bewies er seine poetische Ader. Ich hörte mir gerne seine langen, rätselhaften Sätze an, von denen ich nur ein paar Worte verstand. Er ließ märchenhafte und verborgene Welten vor meinen Augen entstehen, die den Schlüssel zu den Geheimnissen der Welt enthielten. Apeliotes erwähnte Dinge, die sich vor unserer Geburt abgespielt hatten und nach unserem Tod geschehen würden. Er interessierte sich für das unendlich Große und das unendlich Kleine. Kurzum ermöglichte er es mir, der Alltagwelt unseres
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