Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman
war die Schwester eines Freundes und empfing ihn mit offenen Armen. Er nahm ihr Angebot an, in dem Gästezimmer mit der geometrisch gemusterten braunen Tapete und der gehäkelten Tagesdecke zu übernachten. Kurz nach seiner Ankunft sprach Marcel Paul eine Nachricht aufs Handy, dass er bei Ginette angekommen war. Er duschte, rasierte sich, machte einen kurzen Mittagsschlaf und trank mit seiner Gastgeberin einen Aperitif. Paul hatte sich noch immer nicht gemeldet. Heute kam wie jeden Sonntag Ginettes Sohn Pilou zum Abendessen zu Besuch. Pilou, der mit richtigem Namen Philippe Légias hieß, war siebenundvierzig Jahre alt. Er hatte kräftige, behaarte Arme, krempelte selbst im Winter die Hemdsärmel hoch und rühmte sich, eingefleischter Junggeselle zu sein. Ginettes Sohn liebte das Meer und erzählte gerne komische Geschichten. Er war in der Tat ein lustiger Kerl. Nebenseinem Beruf als Elektriker engagierte Pilou sich bei der freiwilligen Feuerwehr. Alle mochten Pilou, vor allem wenn er Bier auftischte. Heute bot er Marcel als Aperitif Mélusine an, das Bier aus der Vendée, das er für Fremde reservierte. Marcel war Pilous offene Art sofort sympathisch, daher flogen auch keine Fäuste, als Pilou ihn als unverbesserlichen Dummkopf bezeichnete.
»Du bist ja verrückt!«, schrie Pilou und fuchtelte mit den Armen in der Luft herum. »Du willst am 22. zur Ile d’Yeu schwimmen? Das ist der schlimmste Tag des Jahres! Das bedeutet den sicheren Tod! Er sagt, er will am Tag einer Springtide zur Insel schwimmen! Ein echter Süßwassermatrose!«
Dieser Kommentar kränkte Marcel dann doch. Er versuchte sich zu rechtfertigen, indem er erklärte, ein junger Mann habe ihm zu dem 22. geraten, weil das Meer sich an diesem Tag so weit zurückziehe, dass er drei Kilometer weniger schwimmen müsse. Falls dies den Tatsachen entspreche, sei das doch nicht schlecht. Wenn er aber falsch informiert worden sei ...
»Nein, er hat recht, dein junger Spund aus Paris. Am 22. bildet sich im Meer der Pont d’Yeu, weil wir an dem Tag Springflut haben. Das ist aber nur ein guter Tag für Schnecken und nicht für Schwimmer, mein Lieber! Was glaubst du wohl, was sich im Meer zwischen der Ile d’Yeu und Notre Dame abspielt, hm? Meinst du, das Wasser fällt und steigt bei Ebbe und Flut nur am Ufer? Wenn du mitten im Wasser bist, falls du überhaupt so weit kommst, musst du fünf Kilometer in die entgegengesetzte Richtung schwimmen, wenn die Flut zurückkehrt. Dann nutztes dir gar nichts, dass du drei Kilometer gespart hast ...«
»Daran habe ich auch schon gedacht«, erwiderte Marcel kleinlaut.
»Aber nicht gründlich genug. Man würde dich wie eine alte Qualle am Ufer wiederfinden. Na ja, man kann es dir nicht übelnehmen. Du hast dich von deiner jugendlichen Begeisterung mitreißen lassen. Aber besser, du sagst es uns jetzt als später, wenn du schon mit dem Hintern in den Algen festhängst. Du bist ein echter Bretone. Das muss man wirklich sagen.«
»Lass mich nicht dumm sterben. Was hat es denn mit dem Pont d’Yeu auf sich?«
Ginette, die mit einem Schüsselchen Pistazien hereinkam, setzte sich und ergriff das Wort.
»Bei jeder Springtide«, begann sie, »zieht sich das Meer sehr weit zurück, wenn Ebbe ist, und es entsteht an dem Strand zwischen Notre Dame und Saint-Jean-de-Monts der Pont d’Yeu. Man spricht von einer sogenannten Brücke, aber in Wahrheit handelt es sich um einen mit Steinen bedeckten Weg, der sich ein paar Kilometer zwischen der Ile d’Yeu und dem Festland hinzieht. An einigen Stellen ist er fünfhundert Meter breit. In grauer Vorzeit war die Landzunge nämlich noch mit Wasser bedeckt ...«
»Ach, das ist doch alles dummes Zeug«, unterbrach ihr Sohn sie. »Pass auf, Marcel, ich erzähle dir die wahre Geschichte. In einem Punkt hat meine Mutter allerdings recht. Es ist nämlich eine Ewigkeit her. Die Geschichte beginnt vor eintausendfünfhundert Jahren. Anfang des fünften Jahrhunderts gab es einen Heiligen ... Ich erinnere mich nicht mehr an seinen Namen, aber das machtnichts ...«
»Es war der heilige Martin von Vertou«, sagte Ginette.
»Genau. Der heilige Martin fragte sich, wie er die Ile d’Yeu erreichen konnte, um den Sündern dort Gottes Wort zu verkünden. Eines schönen Tages bekommt der heilige Martin Besuch vom Teufel«, fuhr Pilou fort. »Er sagt zu ihm: ›Eh, Martin, ich schlage dir einen Deal vor. Ich baue dir eine Brücke. Aber dafür bekomme ich die Seele des ersten Christen, der sie
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