Als der Kalte Krieg am kaeltesten war - Ein dokumentarischer Roman
verschlafen.
Sebastian lächelte, als er daran dachte wie sie damals das Lokal wieder betreten hatten. Es war wie ein Schlag vor den Kopf, der sie sofort ernüchterte. Den Schankraum fanden sie fast leer vor, an einigen Tischen hockten noch Betrunkene, die den beiden „Prost Neujahr“ zulallten. Andere schliefen dort auf ausgebreiteten Armen. Von der Decke baumelten ein paar herunter gerissene Luftschlangen und die Besatzung hinter der Theke spülte und polierte bereits eifrig die Gläser. Ein Blick auf die Uhr an der Wand zeigte ihnen, daß sie den Übertritt ins neue Jahr längst verpaßt hatten.
„Neujahr verpennt“, hatte Freund Nuglisch nur resigniert festgestellt und Sebastian war plötzlich schlecht geworden. Der Magen rebellierte, krampfte, hob sich, erinnerte er sich deutlich. Er war damals hinausgestürzt und ein paar Schritte in Richtung Wald gelaufen, um sich zu übergeben. Nie wieder, überlegte er, hatte er seit damals, in welcher Form auch immer, Pfefferminz, geschweige denn als Likör auch nur anzurühren versucht. In die Verlegenheit dies doch mal tun zu wollen würde er wohl so bald nicht kommen ging es ihm durch den Kopf, bevor er dann wieder auf dem Rücken liegend, die Hände auf der Decke, doch endlich einschlief.
Der gellende Weckruf der Stahlschiene riß ihn aus einem Traum: Eine stockdunkle Nacht, kalt, und er stand dort im tiefen Schnee, den er mehr spürte als daß er ihn sah. Dann plötzlich ein Licht in der Ferne. Auch dieses Licht nur ein einsamer Punkt. Ein Licht, das jedoch schwankend näher kam. Und schließlich war diese Stimme da, ganz langsam, ganz deutlich und ungeheuer tröstlich: „Es sind die Liebenden, sie holen dich heim.“
Nun stand er da in der Zelle, barfuß, im Hemd, und das Krachen der Schlösser den Gang entlang kam näher. Was war das gewesen im Traum? Verborgenes Wunschdenken? Und die Liebenden? Er dachte an seine Mutter, die sich, das wußte er, für ihre „Brut“ in Stücke reißen lassen würde. Ganz gleich, was es auch war, er spürte ein tiefes Gefühl von Solidarität…
Dann flog auch schon die Zellentür auf. Er machte seine Meldung und holte die Sachen vom Gang sowie Schüssel, Wasserkanne und immer dasselbe winzige, schon ganz schmutzige Handtuch. Ob das auch wirklich stets seins war? Da es keine Seife gab, verdreckten diese kleinen Tücher natürlich schnell. Auch eine Zahnbürste hatte er nicht und so rubbelte er die Zähne mit den Fingern ab.
Nachdem er auch in den ersten Januartagen nicht zum Verhör geholt worden war, krachten dann eines Tages wieder Schloß und Riegel seiner Zellentür.
„Kommen Sie“, wurde er aufgefordert.
Sebastian schnappte sich seine Jacke, zog sie über und folgte dem Läufer.
„Hände auf den Rücken.“ Dann ging es den Gang entlang in die andere, die Gegenrichtung, in die er bisher noch nie gebracht worden war.
Also doch kein Verhör? Schließlich stand er vor einer festen Stahltür. Als er die passiert hatte, wußte er plötzlich, wo er sich befand. Hier war er am Tag seiner Ankunft durchgeschleust worden. Dann kam auch schon, was er jetzt erwartete. Der Gang endete an einer Treppe, die an der Wand entlang in die hohe Halle hinabführte, durch die er damals in umgekehrter Richtung von der sogenannten Aufnahmeprozedur aus gleich zum Verhör gebracht worden war.
Der Läufer führte ihn dann aber vor eine andere Tür. Was wollten die diesmal von ihm? Hatten hier womöglich die Russen ihre Hände im Spiel? Sibirien sollte ja auch ein schönes Land sein, doch davon würde er sicher nicht viel zu Gesicht bekommen.
Als dann die Tür aufgestoßen wurde, fand er sich in einem ummauerten Käfig wieder, vielleicht zweimal so groß wie seine Zelle, schätzte er. Etwa fünf Meter hoch die Mauern, oben mit Stacheldraht abgeschlossen, darüber ein Wachturm und ein uniformierter Posten mit einer auf ihn gerichteten Maschinenpistole. Er war allein in diesem Zwinger. Es war kalt, der Boden gefroren, er sah dort viele Schuhabdrücke von Leuten, die hier im Kreise gelaufen waren. Ein eigenartiges Gefühl, als er die kalte Luft atmete und durch den Stacheldraht hindurch nach vielen Wochen wieder den Himmel sah, mit dicken blaugrauen Schneewolken verhangen. Ihn fror schließlich und so drehte er in schnelleren Schritten seine Runden. Als er zurück in die Zelle kam, lagen die Decken auseinander gerissen als Knäuel auf der Pritsche und die Matratze auf dem Fußboden. Was wollten die denn noch finden?
70.
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