Als der Kalte Krieg am kaeltesten war - Ein dokumentarischer Roman
bei ihm bloß Schiß, sich mit der Kirche anzulegen. Das kann sich aber jeden Tag ändern, ist übrigens auch Totilas Meinung.“
„Ist denn der Pfarrer nicht verheiratet?“
„Doch, schon. Aber soviel ich gehört habe ist Totilas Mutter mit der älteren Tochter in Westberlin. Die Mutter arbeitet dort im Konsistorium.“
Frau Sebaldt schüttelte den Kopf. „Eigenartige Verhältnisse“, sagte sie.
„Aber der Pfarrer ist öfter mal in Westberlin, schon wegen der Kirchenleitung, wie ich von Totila hörte. Seine Mutter hat wohl die dauernden politischen Querelen ihres Mannes nicht mehr ausgehalten.“
„Mag ja sein“, meinte Frau Sebaldt, „aber ich weiß nicht, für die Kirche und einen Pfarrer haben Ehe und Familie doch immer noch einen ganz anderen Stellenwert.“
„Aber Pfarrer Kunzmann ist doch schließlich nicht geschieden.“
„Wie auch immer“, schloß seine Mutter, „letztendlich geht uns das nichts an. Beschäftige du dich ruhig mal mit der Bibel, das kann mit Sicherheit nichts schaden.“ Damit verließ sie das Zimmer, und Sebastian schlug zögernd das dicke Buch auf.
10.
Die Tage vergingen im üblichen Trott. Sebastian fuhr in den Wald, die jüngeren Geschwister mußten zur Schule, der ältere Bruder schob in der Ziegelei die schweren Ziegelkarren in die Brennöfen, sein Vater ging früh zum Dienst und seine Mutter hielt das Ganze zusammen – der schwerste Job in dieser Zeit. Die Einkellerungskartoffelzuteilung, das war wieder mal abzusehen, würde nur bis in den April hinein reichen. Kartoffeln gab es dann erst im Herbst wieder. Die Brotzuteilung auf Lebensmittelkarten war wie immer sehr knapp bei heranwachsenden Kindern, wie ja überhaupt die Versorgung weitestgehend eine minimale blieb. Der große Garten machte zwar sehr viel Arbeit, trug dann aber auch dazu bei, die Jahre halbwegs gesund zu überstehen. Gemüse gab es im Winter in den Konsum-Läden überhaupt nicht. Wenn man Glück hatte konnte man manchmal eine Kohlrübe, eine Handvoll Karotten, auch einen Weißkohlkopf erstehen. Andererseits gab es keine Weckgläser und erst recht keine Einweckgummis. Die paar Hühner legten im Winter natürlich auch nicht, und die Milch der Ziege, die im wesentlichen von Kartoffelschalen lebte, so lange die Kartoffeln reichten, füllte gerade mal einen Kaffeebecher täglich. Auf die Fleischmarken der Lebensmittelkarten gab es öfter mal Harzer Käse, der schon nach wenigen Tagen in einen scharf riechenden grauen Matsch zerfiel. Auf die Fettmarken bekam man in aller Regel glasig aussehende bröcklige Margarine, die talgig schmeckte und auch nie reichte. Das Brot auf Marken war dunkel, feucht und schwer – klunschig sagten die Kinder dazu. Zucker blieb eine Rarität und in den vor gut drei Jahren eröffneten HO-Läden, staatliche Geschäfte, in denen man zu überhöhten Preisen ohne Lebensmittelkarten einkaufen konnte, waren diese Kostbarkeiten fast unerschwinglich. Der besser verdienende Vater Sebastians bezog ein Gehalt von knapp fünfhundert Mark. Sebastian erhielt ein Lehrlingsentgelt von dreißig Mark. Sein schwer schuftender älterer Bruder verdiente in der Ziegelei knapp zweihundertfünfzig Mark. Ohne Aussicht auf eine grundlegende Besserung der Situation übten sich die Menschen noch immer in der Kunst des Überlebens. Dabei hatte Sebastians Familie noch Glück, weil das Haus, in dem sie wohnten, ans Fernheizungsnetz der einstigen Ilse-Werke angeschlossen war und man so im Winter wenigstens nicht frieren mußte. Braunkohlebriketts waren Mangelware im Land. Außerdem bekamen Sebaldts wie alle ehemaligen Werksangehörigen Deputatkohle. Das beruhte noch auf alten kapitalistischen Ilse-Traditionen, die, erstaunlich genug, weiter in Geltung blieben. Die alten Ilse-Werke, die ja neben dem Braunkohleabbau über Ziegeleien, Zimmerplätze und Baubetriebe verfügten, trugen zwar jetzt den dynamischen Namen „Tatkraft“, doch die Belegschaft, nun Werktätige genannt, war weitestgehend noch die alte, ohne die alten Direktoren freilich, die sich mit Generaldirektor Klitzing an der Spitze schon 1945 in den Westen abgesetzt hatten. Die Ilse-Bergbau AG galt seinerzeit als außerordentlich sozial, nicht zuletzt auch den einfachen Gruben- und Fabrikarbeitern gegenüber, die diesen Zeiten scheu nachtrauerten. Laut aber wagte es niemand, das unter dem rigiden Regime der Arbeiter- und Bauernmacht zum Ausdruck zu bringen. Die allgemeine Unzufriedenheit war groß und wuchs weiter, auch wenn die Regierenden
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