Als der Kalte Krieg am kaeltesten war - Ein dokumentarischer Roman
häufig in lebhafter Bewegung. Die Gestalt, das Gesicht unter weißen Haaren und breiter Stirn, ließen Sebastian eher an einen Schauspieler alter Schule denken. Und er erinnerte sich dabei an den Auftritt des Pfarrers in seiner Kirche, den er vorhin miterlebt hatte. Kein Wunder, dachte er, daß Partei und Stasi aufgeschreckt reagieren.
„Wir brauchen hier couragierte junge Leute“, sagte der Pfarrer und sah dazu Sebastian an, „Leute, die auftreten können und sich auch etwas zu sagen getrauen.“
Aber nicht mit mir, überlegte Sebastian, auf keinen Fall sinnlos auffallen, sagte er sich. Schließlich hatte er sich zu einer anderen Art von Widerstand entschlossen. Laut sagte er: „Es wird doch in Großräschen noch Leute geben, auf die so was zutrifft.“
„Die Menge macht’s nicht“, sagte der Pfarrer mit einer abwertenden Handbewegung.
„Entschuldigen Sie“, entgegnete Sebastian, „aber wer mit der Kirche sympathisiert, der ist bereits verdächtig.“
„Stimmt schon“, bestätigte Totila sogleich. „Du weißt doch“, wandte er sich an seinen Vater, „als was Junge Gemeinde-Mitglieder bezeichnet werden. Und als Kugelkreuzbanditen’ sind die Chancen in Beruf und Schule gleich Null.“
Der Pfarrer nickte nachdenklich, zog dazu eine Braue steil nach oben, sah Sebastian an und dann seinen Sohn. „Alles Verbrecher“, sagte er, „nichts als Verbrecher!“ Dazu schlug er mit der Hand bekräftigend zweimal kurz durch die Luft, so als ob er, kam es Sebastian vor, Handkantenschläge austeilte. „Ich hoffe auf alle Fälle, wir sehen uns recht bald einmal wieder“, beendete er abrupt seine Auslassungen und reichte den Geschwistern verabschiedend die Hand.
9.
„Sag’ mal“, fragte Sebastian seine Mutter, die im Herrenzimmer am Schreibtisch saß, „wir hatten doch immer eine Bibel, oder?“
„Sicher, die haben wir noch.“ Frau Sebaldt sah ihren Zweitältesten überrascht an. „Was willst du denn damit?“
„Na, ich war doch in der Kirche“, erklärte der Sohn, „und die politischen Anspielungen Kunzmanns, also des Pfarrers, die habe ich manchmal nicht ganz verstanden, aber die hatten natürlich mit der Bibel zu tun.“
„Konfirmandenunterricht“, sagte Frau Sebaldt ironisch, „war ja damals deine Sache nicht, das hatten der Herr nicht nötig.“
„Hör doch auf“, entgegnete Sebastian, „da wüßte ich heute auch nicht mehr. Was war das schon für’n Unterricht! Und die Bibel, ich wollte da bloß mal reingucken.“
„Glaub’ nur nicht, daß das so leicht zu lesen ist. Das heißt, Bezüge, die du vielleicht suchst, die sind dort nicht so einfach zu finden, wie du dir’s womöglich vorstellst.“
Sebastian stand vor dem Bücherregal, den Kopf im Nacken tastete er mit Blicken im bereits dämmrigen Zimmer mühsam die oberen Reihen der Buchrücken ab.
„Nicht da oben!“ Seine Mutter schüttelte den Kopf. „Da links unten“, sagte sie, „sie wird dich gleich beißen. Du stehst direkt davor“, und sie wies mit der Hand auf einen breiten schwarzen Buchrücken.
Sebastian zog das Buch der Bücher aus dem Regal. „Ein dickes Ding“, meinte er und wog es in beiden Händen.
„Die Familienbibel“, erklärte Frau Sebaldt, „ein sehr altes Buch.“
„Unhandlich“, stellte Sebastian fest. „Wo soll man das lesen?“
„Na, am Tisch, wo sonst.“
Sebastian legte das schwere Buch auf dem runden Herrenzimmertisch ab, zog sich einen Stuhl vor den Schreibtisch seiner Mutter und setzte sich ihr gegenüber. „Dieser Pfarrer Kunzmann“, sagte er, „der scheint ganz interessant zu sein. Er ist auch erst seit einem knappen Jahr in Großräschen und kommt aus Belzig.“
„Das ist allerdings ein Abstieg“, meinte Frau Sebaldt. „Belzig und dann Großräschen? Sieht ja fast wie eine Strafversetzung aus.“
„Ist es wohl auch, denn was Totila, also der Sohn des Pfarrers, so erzählt, da ist sein Vater in der Westberliner Kirchenleitung kein Unbekannter. Ich glaube, der hatte in Belzig politischen Ärger, irgendwas mit der Jungen Gemeinde und der FDJ und so... Da wird die Kirchenleitung ihn wahrscheinlich nach Großräschen versetzt haben. Hier war ja die Pfarrstelle vakant. Übrigens“, erklärte Sebastian weiter, „geht Totila in Senftenberg zur Oberschule. Da staunst du, was?“
„Tja, eigentlich schon“, sagte Frau Sebaldt.
„Ich meine“, und Sebastian hob dazu den Zeigefinger, „das ist politisch, total politisch! Das sagt Totila übrigens auch. Die Bonzen hatten
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