Als der Kalte Krieg am kaeltesten war - Ein dokumentarischer Roman
„Wundert mich, daß das hier noch hängt.“
Als sie sich über das Verteilen der Briefe verständigt hatten – baden konnten sie ja später noch – stopften sie sich damit Mantel- und Jackentaschen voll, bis sie, wie Hans-Peter meinte, unförmig wie Weihnachtsmänner aussahen. „Wir müssen bestimmt viermal gehen“, stellte er dazu fest.
Dann liefen sie rasch die Treppe hinunter und an der Rezeption vorbei, um nur möglichst kurz vom Portier gesehen zu werden. Wichtig war es die Post auf möglichst viele Briefkästen zu verteilen und das nicht nur um den Bahnhof herum. Sie gingen daher die Friedrichstraße hinauf, am Johannishof vorbei und weiter, auch in Nebenstraßen hinein. In einem einzelnen Briefkasten durften ja nicht dutzendweise gleich aussehende Briefe nach Halle oder Görlitz vorgefunden werden. Wenn das mal kontrolliert würde könnte der größte Teil ihrer Mühen umsonst gewesen sein. „Das wäre doch traurig“, meinte Sebastian, „wenn die vielen Leute unsere Post nicht bekämen.“
Und so waren sie denn stundenlang mit immer wieder vollgestopften Mantel- und Jackentaschen unterwegs. In der nur sehr mäßig beleuchteten Friedrichstraße fielen sie nicht weiter auf. Am späteren Abend waren dort auch kaum noch Passanten anzutreffen. Uniformierte und Vopos, von denen ihnen einige begegneten mieden die beiden nicht, ganz im Gegenteil, gerade an denen gingen sie mit Flugschriften vollgepackt aufrecht und ohne zu zögern besonders dicht vorüber. Sebastian nannte so etwas dann immer das Hauptmann-von-Köpenick-Spiel, so etwa, als sie einen Polizisten nach der Uhrzeit fragten, die der ihnen auch prompt, seine Armbanduhr umständlich unterm Uniformärmel suchend, nannte. Sie bedankten sich und steuerten den nächsten Briefkasten an, um sich dort wieder eines Teils ihrer Post zu entledigen.“ „Durch die ewige Pflastertreterei tun mir allmählich die Füße weh“, meinte Sebastian, und Hans-Peter blickte auf seine Uhr. „Kein Wunder“, erklärte er, als sie die letzten Briefe eingeworfen hatten, „es geht ja schon auf die Geisterstunde zu.“
„Aber baden werde ich doch noch“, entgegnete Sebastian entschlossen. Wir werden dem Portier Bescheid sagen, die sollen uns morgen um halb acht wecken, dann kriegen wir den Zehn-Uhr-Zug in Königswusterhausen ohne zu hetzen.“
„Morgen ist ja Gott sei Dank Wochenende“, sagte Hans-Peter.
21.
In den ersten Märztagen schlug das Wetter plötzlich um. Eine warme Sonne ließ das fahle Braun und schmutzige Grau der Winterfarben an Büschen und Bäumen, in Wald und Feld gar nicht mehr so trist erscheinen. Ein blauer Himmel mit wenigen weißen Wölkchen nahm schon eine Ahnung des Sommers vorweg. Das spürte vor allem Sebastian, der, wie die meisten seiner Lehrlingskollegen, mit entblößtem Oberkörper noch beim Holzeinschlag schwitzte.
„Wir hören hier bald auf“, hatte Onkel Jaschek schon angekündigt. Man werde demnächst Kiefernschößlinge in den Boden bringen.
An manchen Sträuchern quollen, wenn man genau hinsah, bereits die Blattknospen. Frost hatte es in der letzten Februarwoche auch nur noch nachts gegeben. Mußte man bis Mitte Februar stellenweise noch durch hohen Schnee waten, so war Ende des Monats nichts mehr von der angegrauten Pracht geblieben. Statt Schnee hatte es Regen gegeben, der die letzten zusammengefallenen Reste rasch wegwusch. An ganz wenigen Stellen im Wald, im Dauerschatten, etwa an flachen Endmoränen, die das Land durchzogen, fand man noch länger einige aufgeweichte Schneeränder, die dort bereits fremd und unzugehörig wirkten.
Im Radio, das seine Mutter in der Küche permanent auf den RIAS eingestellt hielt, hörte Sebastian vom Tode Stalins in einer Sondersendung, die in Abständen wiederholt wurde. Das ist, Sebastian vergewisserte sich am Kalender, der 5. März 1953 und er suchte überrascht auf der Radioskala den Rundfunk der DDR, weil er glaubte sich vielleicht verhört zu haben. Stalins Tod, in der DDR mußte man ja davon wissen. Dort ertönte Trauermusik, dazwischen Ansprachen von Regierungsfunktionären, alle erschüttert, als sei schon das Ende der Zeiten angebrochen. Die Hoffnung der Welt sei gestorben, hieß es. Stalin, der Führer, der Lehrer der Völker ist nicht mehr. Untröstlich sind die Völker der Welt. Ganz Moskau weint. Die Menschen, hieß es, sind verzweifelt. Die Sonne der Weisheit scheint nicht mehr. Wer wird uns nun der hellen Zukunft entgegenführen fragen die sich verloren Fühlenden
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