Als der Kalte Krieg am kaeltesten war - Ein dokumentarischer Roman
erklärte der in gekünstelt schmollendem Tonfall. „Dieser ganze Klassenscheiß“, und sein Gesicht verfinsterte sich.
„Klassen gab’s immer schon“, widersprach Hans-Peter.
„Bereits im alten Rom“, ergänzte der Pfarrer. „Und wenn man heute hinhört, da beginnt die eigentliche Geschichte der Menschheit erst mit der Arbeiterbewegung.“
„Lassalle!“ warf Hans-Peter ein.
„Ja, so ungefähr“, bestätigte der Pfarrer. „Ein Großbürgersproß, der wegen einer Frauengeschichte im Duell fiel.“
„Sowas war damals nichts besonderes“, warf Hans-Peter ein.
„Richtig“, bestätigte der Pfarrer, „aber nur in aristokratischen und großbürgerlichen Kreisen.“
„Das ist doch nichts Abfälliges.“
„Das sagt ja keiner. Und es war gewiß auch nicht so, daß Lassalle glaubte, mit ihm beginne die Geschichte der Menschheit und alles Frühere sei nur ein Vorlauf gewesen, hin auf seine Arbeiterbewegung, den Kommunismus.“
„Marx und Engels die Propheten“, unterbrach Sebastian den Pfarrer, „Lassalle so eine Art Täufer und Stalin schließlich der Erlöser.“
Der Pfarrer grinste. „Das Christentum jedenfalls hat das Paradies nicht auf Erden versprochen, der Kommunismus aber schon!“
„Da ist die Kirche ja fein aus dem Schneider“, und Sebastian lachte wieder.
„Das Christentum!“ betonte der Pfarrer, „das Christentum, junger Mann. Kirchen gibt’s mehrere und die sind nicht alle aus dem Schneider.“
„Aber jede glaubt das von sich.“
„Nun ja, das ist menschlich. Nur immer Menschen repräsentieren ja die Religionen“, und ein Lächeln erhellte kurz sein Gesicht, „oft mehr schlecht als recht.“
„Sie meinen alle Religionen?“ wollte Sebastian wissen.
„Hm, ja schon“, der Pfarrer wiegte den Kopf, sah dann gegen die hohe, im Dämmer verschwimmende Decke des großen Terrassenzimmers, an der die Stehlampe einen diffusen Lichtkreis beschrieb. „Nicht alle haben aber Kirchen.“
„Moscheen“, sagte Sebastian.
„Sind nicht Kirchen in unserem Sinne“, erwiderte der Pfarrer. „Weltreligionen sind großenteils nicht miteinander vergleichbar.“
„Da hat’s der Weltkommunismus einfacher“, erklärte Hans-Peter.
„Nicht unbedingt“, widersprach der Pfarrer. „Da gibt’s auch Abweichler und Revisionisten, so nennt man das wohl, in Jugoslawien zum Beispiel. Und denkt doch bloß mal an den Zickzackkurs der maßgebenden Moskauer Parteilinie. Wer da die Kurve nicht kriegt, wird liquidiert. Das sehen wir doch dauernd, auch hier bei uns in der DDR.“
„Hier wird aber nicht ganz so schnell liquidiert“, warf Sebastian ein.
„Ja, gut. Aber zehn, fünfzehn Jahre Zuchthaus sind ja auch kein Pappenstiel.“
„Das ist richtig“, und Sebastian nickte.
Weinflaschen und Gläser waren leer. Man trank seit einiger Zeit Wasser und Limonade, grell rote oder grüne Chemie.
Der Pfarrer sprach dann wieder von seiner Zeit in Belzig, von den Leuten dort, den Stasispitzeln und wie man dort im Pfarrhaus Wanzen gelegt hatte. Von der Jungen Gemeinde erzählte er, der FDJ und von Meister Kettelhut, einem orthopädischen Schuhmachermeister mit eigener Werkstatt und drei spezialisierten Mitarbeitern, „ein Dauerärgernis der Partei“, sagte er. „Die spürten, daß der nicht einverstanden war und sich nicht kaufen ließ. Ein toller Mann, Anführer einer kleinen Widerstandsgruppe, die sich leider auflöste, weil nach und nach alle in den Westen gingen. Die hatten da“, berichtete er, „mal eine Aktion gestartet, mit Flugblättern, die sie von der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit in Westberlin, der KgU, geholt hatten. Eingetütet und an fast hundert Luftballons gehängt ließen sie die nachts aufsteigen. Die gingen dann in rund hundert Kilometern Umkreis nieder, manche flogen wohl noch weiter, Tausende von Flugblättern. Ich weiß nicht, was die sonst noch alles gemacht haben, tolle Leute allesamt und Kettelhut, ein interessanter, ein mutiger Mann“, begeisterte Pfarrer Kunzmann sich.
Und Sebastian überlegte, ob man dem Pfarrer nicht doch erzählen könnte, was sie hier machten, wo der sich doch so für diesen Kettelhut begeisterte. Vielleicht würde der Pfarrer in irgendeiner Form mitmachen. Und Totila, überlegte er, mit seiner Einstellung gehörte der ja längst dazu. Der sollte schon die Möglichkeit bekommen, was zu tun, für seine Überzeugung zu tun. Aber erstmal Hoffmann fragen, natürlich, der müßte einverstanden sein. Ganz bestimmt zuverlässige Leute, das kann
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