Als der Tag begann
vor dem Fernseher. Daddy schlief auf dem Sofa ein, während ich auf einem der Wohnzimmersessel Platz nahm, und zwar gleich neben dem Fliegenklebeband, das immer noch — nach all den Jahren – an der Decke befestigt war, mir die Fernbedienung schnappte und herumzappte. Müllsäcke lagen offen auf dem Boden herum, und der Gestank, der damals erträglich schien, war so widerlich, dass ich kaum atmen konnte. Die Wohnung war während unserer Abwesenheit gespenstisch geworden. Mein Zimmer war mit Umzugskartons und Müllsäcken, die Daddy noch nicht hinuntergebracht hatte, vollgestopft. Ein Blick dort hinein machte deutlich, dass er es aufgegeben hatte, auf meine Rückkehr zu hoffen. Also schrieb ich ihm eine Nachricht, wie schön der Besuch gewesen sei, und schlich davon, während er schlief.
Vielleicht wäre ich ihn wieder besuchen gegangen, wenn mich sein Anblick und die verwahrloste Wohnung nicht so traurig gemacht hätten, dass ich damit nicht umgehen konnte. Außerdem
bekam ich danach Albträume. Darin wurde unsere Familie vereint und dann wieder auseinandergerissen, immer und immer wieder. Jedes Mal standen wir in meinen Träumen kurz vor einer Trennung, und alles hing einzig davon ab, wie ich mich entschied. Jedes Mal traf ich, in der letzten Minute vor dem Aufwachen, die falsche Entscheidung, die uns einmal mehr auseinanderriss. Und jedes Mal, wenn das passierte, war der Schmerz frisch. Also hörte ich ganz und gar auf, an einen Besuch zu denken.
Jetzt, als Sam und ich uns dem Wohnhaus näherten, sah ich, dass Bretter über mein Fenster und das Schlafzimmerfenster meiner Eltern genagelt worden waren. Meine erste Reaktion war Neugier, aber die wurde schnell von Angst überrollt. »Sam, ich glaube, es hat dort gebrannt.« Wir reckten unsere Hälse nach oben zu den Brettern, auf die schwarze Xe gesprüht waren. Während wir die Treppen hinaufeilten, malte ich mir im Geist das schrecklichste Szenario aus. Lebte mein Vater noch? War alles verbrannt? Ich hatte mir angewöhnt, immer vom Schlimmsten auszugehen. Wir rannten die letzten Stufen hinauf und kamen zur Wohnungstür, wo ein Vorhängeschloss aus Stahl uns den Eintritt verwehrte. Ich spürte ein seltsames Gefühl von Erleichterung, zugleich war ich irritiert. Ich brauchte ein paar Momente, bis ich begriff, was ich da sah. Sams Stimme holte mich zurück; sie las etwas vor über einen Gerichtsvollzieher und eine Zweiundsiebzig-Stunden-Frist.
Draußen auf der Feuertreppe zerrten wir vergeblich an den breiten Holzplanken. Alles, was wir durch unseren Einsatz erreichten, war, die riesigen Bretter zum Wackeln zu bringen, sodass der moschusartige Geruch aus der Wohnung hinausströmte. Kurz darauf ließen wir uns auf unsere Hintern plumpsen.
»Ich verstehe nur Bahnhof. Ich hab keinen blassen Schimmer, warum er uns nichts gesagt hat und wo er überhaupt hingegangen sein könnte. Ich weiß auch nicht, ob unsere Sachen da noch drin sind, Sam. Tut mir leid, dass ich dich den ganzen Weg hierhergeschleppt habe. Ich hatte keine …»
»Liz«, unterbrach sie mich, »komm her.« Ich beruhigte mich, als wir uns umarmten und einfach gegen die Mauer lehnten. Dort oben auf der Feuerleiter, mit dem Kopf auf ihrer Schulter, atmete ich den feinen Pfirsichgeruch ein. In diesem Augenblick spürte ich, dass Sam mich genauso gernhatte wie ich sie.
»Tja«, war alles, was mir schließlich dazu einfiel.
Sam pflichtete mir bei. »Tja, Liz, scheiß drauf. Was bleibt dir sonst auch übrig?«
Wir konnten nichts machen, also sagten wir auch nichts mehr dazu. In diesem Moment nicht, und auch nicht später, als ich erfuhr, dass Daddy mit der Miete in Rückstand geraten und in ein Männerwohnheim gezogen war. Und ganz sicher nicht, als ich herausfand, dass der gesamte Inhalt unserer Wohnung in Müllcontainern weggeschafft worden war, und zwar lange bevor ich dort ankam. Es gab nichts mehr dazu zu sagen oder zu tun, außer es zu akzeptieren. Also akzeptierte ich es, wie alles andere zuvor auch.
In diesem Frühling rutschte ich noch mal durch und bekam meinen Schulabschluss an der Junior High School 80 durch gerade mal so viel Präsenz, die verhinderte, dass ich wieder im Heim untergebracht wurde. Nach der Feier im Juni stand Ma draußen auf dem Bürgersteig, rauchte ihre Winston-Zigaretten und wartete auf mein Erscheinen, wobei sie sich, ohne es zu wissen, neben eine Ansammlung miteinander plaudernder, parfümierter und gut gekleideter Eltern gestellt hatte, zu der zufällig auch Myers und
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